Mehr noch als vom Tod künden Grabsteine vom Leben der Verstorbenen – Geburtstag, Bilder, Berufe, Wohnorte. Auf dem Friedhof wird eben auch, wenn nicht sogar vor allem, an die Zeit vor der Beisetzung gedacht. Beth-Hachajim – Haus des Lebens heißt der Friedhof nicht umsonst im Hebräischen. Grabsteine erzählen die Geschichte der kleinen Leute und der löblichen Herrschaften, die Geschichte ihres Landes, ihrer Kultur und ihres Glaubens. Diese Erzählungen sind aber nur für kurze Zeit verfügbar. In der Bundesrepublik Deutschland ist das Nutzungsrecht an einer Grabstätte oft auf eine Mindestruhezeit von 15 bis 20 Jahren beschränkt. Auch das tschechische Friedhofsrecht sieht vor, dass Gräber, die nicht mehr gepflegt werden, unter bestimmten Voraussetzungen eingeebnet werden können. Dass Grabsteine aber auch ohne solche Eingriffe mit den Jahren immer weniger erzählen können, zeigen besonders die alten, nicht mehr genutzten Friedhöfe. Dort zerbrechen Grabplatten, versinken die Steine langsam im Boden, verblassen ihre Inschriften und holt sich die Natur in Windeseile zurück, was ihr genommen wurde. Vor dem Efeu sind alle Toten gleich.
Zugegeben, es ist keine romantische Vorstellung, aber um die Erzählungen über unsere verstorbenen Vorfahren zu bewahren, bietet sich das Internet geradezu an. Das Grabsteinprojekt des Vereins für Computergenealogie beispielsweise:
Auf dieser Seite listet der Verein Friedhöfe auf, deren Grabsteine jeweils mit Bildern und Daten erfasst sind. Jeder kann diese Datenbank kostenlos nutzen; sie lässt sich nach Orten und Nachnamen durchsuchen. Mit etwas Glück finden sich so ganz schnell auch Fotos von Grabsteinen der eigenen Vorfahren. Für Ahnenforscher, die den Aufwand und die Kosten einer Reise oder eines Archivbesuchs scheuen, steht dadurch eine wunderbare Nebenquelle zur Verfügung. Zudem wird das Andenken an die Verstorbenen auch nach dem Abräumen der Gräber erleichtert und Kulturgut, wenn auch nur als Fotografie, für die nachfolgenden Generationen bewahrt.
Das öffentliche, nicht kommerzielle Grabstein-Projekt wurde 2007 von einer kleinen Gruppe Ahnen- und Familienforscher ins Leben gerufen; es lebt von ehrenamtlicher Mitarbeit. Die Datenbank ist inzwischen auf eine beachtliche Größe angewachsen. Auch wenn der Schwerpunkt in der Bundesrepublik Deutschland liegt, sind darüber hinaus fast einhundert Friedhöfe in der Tschechischen Republik erfasst – vorwiegend historische Friedhöfe ehemals deutsch besiedelter Ortschaften. Aus Weseritz und Umgebung waren bislang keine Aufnahmen zu finden. Das wollte ich ändern.
Im Frühjahr 2018 verbrachte ich eine Woche in den Orten meiner böhmischen Vorfahren. Mitgenommen habe ich natürlich meine Kamera und zusätzlich noch Arbeitshandschuhe und eine Heckenschere, um zugewachsene Steine vom Efeu zu befreien sowie eine Wurzelbürste und einen robusten Lappen zum Freilegen verwitterter Inschriften. Für jeden Tag nahm ich mir einen Gottesacker vor: den Stadtfriedhof von Weseritz (Bezdružice) sowie den in der Nähe von Rössin (Řešín) befindlichen jüdischen Friedhof, außerdem die Friedhöfe in Tschelief (Čeliv), Witschin (Vidžín), Neumarkt (Úterý) und Böhmisch-Domaschlag (Domaslav). Die Bilder jener Grabsteine, die noch eine lesbare Inschrift aufweisen, sind inzwischen auf den Seiten des Grabstein-Projekts und zusätzlich in voller Auflösung auch auf meiner Homepage (https://sven-mueller.info/) zu finden.
Die fotografische Erfassung und die dafür teilweise erforderlichen Arbeiten – die Säuberung von Inschriften oder das Zurückschneiden der Vegetation – waren einerseits doch ein wenig aufwendiger, als ich dachte. Andererseits habe ich dadurch die Friedhöfe, die ich von früheren Besuchen bereits kannte, auf eine ganz andere, viel intensivere Weise erlebt. Und mir fiel auf, wie sehr sie sich voneinander unterscheiden.
Richtig alt ist der Weseritzer Stadtfriedhof eigentlich nicht. Er liegt am ehemaligen Langen Weg (K Lesu) am Ortsrand und wird von der Stadt Bezdružice heute noch genutzt. Der erste, um die Kirche gelegene Gottesacker war bereits 1828 aufgelassen und der spätere Friedhof 1931 mit dem Bau des Kriegerdenkmals aufgegeben worden. Viele Grabsteine mit deutscher Inschrift finden sich nicht mehr auf dem „neuen“ Friedhof, gerade einmal sieben fotografiere ich. Einige der älteren Grabsteine tragen tschechischsprachige Gedenkplatten, der Rest ist ohnehin jüngeren Datums. Dass die übrigen alten Steine nicht aus Platzgründen weichen mussten, wird deutlich, wenn man den hinteren, überwachsenen Bereich des Friedhofs besucht. An zwei Stellen türmen sich zerstörte Grabsteine, die offenbar nach der Vertreibung der deutschböhmischen Weseritzer an der Friedhofsmauer aufgehäuft wurden. Am zentralen Friedhofskreuz wurde im Jahre 2002 anlässlich des Florianifests eine aus Spenden finanzierte Gedächtnistafel angebracht: „Zum Gedenken an die ehemaligen deutschen Bewohner der Pfarrei Weseritz, die auf diesem Friedhof bis zum Jahre 1946 ihre ewige Ruhe fanden. Errichtet im Jahre 2002 von den in aller Welt verstreuten Nachkommen.“ Beeindruckend ist die gut erhaltene Skulptur einer weinenden Frau, die unweit des Kreuzes steht. Sie ziert das Grab der Antonia Fritsch, die hier im Jahre 1914 zur Ruhe gelegt wurde. Mein Urgroßvater, Josef Holdschick, war der Letzte aus meiner Familie, der hier beigesetzt wurde. Er starb im Alter von 87 Jahren, drei Wochen bevor seine Nachkommen in den Güterzug gen Westen gezwungen wurden. Sein Grab existiert nicht mehr.
Die letzte Bestattung auf dem jüdischen Friedhof in Weseritz fand im Jahre 1935 statt. Das jüdische Leben in der Stadt endete mit der Annexion des Sudetenlandes durch das Deutsche Reich. Viele Juden flüchteten vor den Nationalsozialisten in den noch freien Teil der Tschechoslowakei. Wer sich nicht rechtzeitig in Sicherheit brachte, wurde bald aber auch dort gnadenlos verfolgt, in Vernichtungslager deportiert und ermordet. Das traurige Ende, aber auch die Anfänge und die guten Jahre der jüdischen Gemeinde haben Ingild Janda-Busl und Franz Busl in dem Jahre 2006 erschienen Buch „Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Weseritz/Bezdružice“ sehr detailliert dokumentiert. Es heißt darin, dass ein Rössiner während der Zeit, in der die Schändung jüdischer Friedhöfe an der Tagesordnung war, Grabsteine des Weseritzer Judenfriedhofs für den Mauerbau geholt und sich dann aus Gewissensbissen erhängt haben soll. Lange lag der Friedhof – oder was davon übrig geblieben war – schwer zugänglich in einem Wald bei Rössin verborgen. Nur oben vom Schlossberg aus ließ sich die Lage des Friedhofs gut erkennen – an den im Vergleich zur Umgebung unterschiedlichen Baumarten. Die Umfriedung war bereits eingefallen und viele Grabsteine umgeworfen oder zerstört, als die Aktion Sühnezeichen-Friedensdienste dem Friedhof ein Stück seiner Würde zurückgab. Nachdem die Stadtverwaltung die aufgrund eines schweren Sturms eingestürzten Bäume abgeräumt hatte, machten sich in den Jahren 2010 und 2011 die Teilnehmer des internationalen Freiwilligendienstes in vier Ü40-Sommerlager daran, die restlichen Pappeln zu fällen, Grabsteine aus vielen Einzelteilen zusammenzusetzen, wieder aufzurichten und zu reinigen. Auch die Fundamente der Leichenhalle haben sie gut sichtbar freigelegt. Dutzende der für den Mauerbau verwendeten Steine und Fragmente waren wenige Jahre zuvor aus Rössin zurückgebracht worden und lehnen nun an der Friedhofsmauer. Haus des Lebens.
Die Kapelle direkt gegenüber dem Neumarkter Gemeindefriedhof ist dem Heiligen Wenzel geweiht. Über ihrem Portal befinden sich das Wappen und die Initialen des Abtes von Tepl. Zumindest von außen wirkt sie ordentlich. An einer gut sichtbaren, zentralen Stelle haben ehemalige Neumarkter im Jahre 1994, einhundert Jahre nach Errichtung des Friedhofs, eine zweisprachige Gedenktafel eingeweiht: „1894 – 1994 Wir gedenken unserer Toten. Herr bei Dir ist Heimat. Gerichtet von den in Deutschland lebenden Nachkommen.“ Sie ziert den Sockel des restaurierten, großen Friedhofskreuzes. Sieben Jahre später wurde an der hinteren Friedhofsmauer, dort, wo heute die meisten alten Grabsteine zu finden sind, eine deutschsprachige Gedenktafel errichtet: „Zum Gedenken an die verstorbenen ehemaligen Bewohner des Kirchsprengels Neumarkt“. Manche Grabsteine sind erstaunlich gut erhalten und wirken gepflegt, andere lehnen vergessen und verlassen an der Friedhofsmauer. Als ich Anfang Mai meine Fotos schieße, kriecht aus dem Wald ein kühles Lüftchen herauf, die Abendsonne zaubert aber bereits eine Vorahnung des langen Sommers auf die warme, von dichtem Moos bewachsene Mauer. Ich finde noch ein verwittertes Holdschick-Grab, weiß aber nicht, ob und in welcher Weise die dort Beigesetzten mit dem Weseritzer Zweig der Familie verwandt waren.
Das Dörfchen Witschin gehört heute zur Stadt Neumarkt. Unten am Neumarkter Bach standen die Holdschick-Häuseln und die Holdschicken-Mühle. Mein Urahn, Urban Holdschick, soll dort am 9. Februar 1654 gestorben sein. Die Mühle, deren noch sichtbaren Mauerreste im Sommer von Brennnesseln überwachsen sind, war möglicherweise der Ursprung der Holdschicks im Weseritzer Ländchen. Grund genug, den Friedhof zu besuchen, obwohl mir natürlich klar ist, dass derart alte Gräber dort nicht mehr zu finden sein werden. Das eiserne Friedhofstor steht offen, auf der anderen Straßenseite bereiten die Betreiber einer Biker-Kneipe den Garten für den Sommer vor. Noch aber sind keine Motorräder zu sehen und auch nicht zu hören. Es ist still auf dem Friedhof, der seit der Vertreibung nicht mehr belegt wird. Bei meinem ersten Besuch vor fünfzehn Jahren wucherten noch Rainfarn, Himbeerbüsche und Weideröschen. Die dichte Vegetation machte damals ein Durchkommen fast unmöglich. Verwahrlost war kein Ausdruck, aber Verfall und Nostalgie liegen manchmal nahe beieinander. Inzwischen ist der Friedhof gerodet und wieder gut begehbar. Seine Patina hat er sich freilich bewahrt. Narzissen blühen zwischen den notdürftig wieder aufgestellten Grabsteinen. Die meisten Grabplatten sind zerborsten und die Schrift auf den noch intakten Steinen ist oft nicht mehr lesbar. Befremdlich wirkt die kleine Mittelallee aus viel zu eng gepflanzten und inzwischen übergroßen Thujen, an deren Ende das Friedhofskreuz steht. Moos kriecht in die Ritzen der umgefallenen Steine. Auch hier finde ich noch eine Erinnerung an verstorbene Holdschicks.
Wer mit dem Auto unterwegs ist, muss aufpassen, am Kokaschitzer Friedhof in Tschelief nicht vorbeizufahren. Er liegt unmittelbar am Weg nach Kokaschitz (Kokašice), ist sehr aufgeräumt und beherbergt nur noch wenige alte Grabsteine mit deutscher Inschrift. Auch hier ist das zentrale Friedhofskreuz noch erhalten. An der Mauer zur Straße hin befindet sich ein Gedenkstein mit Kruzifix, der an eine Grabschändung auf dem nahe gelegenen Schwanberg erinnert. Die Übersetzung der Inschrift lautet in etwa: „Hier liegen die Überreste derer von Schwanberg, die 1964 aus den verwüsteten Gräbern auf der Burg Schwanberg überführt wurden. Sie mögen ruhen in Frieden.“
Recht gut erhalten ist der Friedhof in Böhmisch-Domaschlag. Zwar liegen die Erhaltungs- und Pflegearbeiten, die der Verein o. s. Domaslav in Kooperation mit einem Sommerlager der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e. V. initiiert hat, bereits fast zehn Jahre zurück. Doch hat sich in der Zwischenzeit auch die Gemeinde um den Friedhof gekümmert und beispielsweise das verfallene Leichenhaus wieder aufgebaut. Die Fotos von den Aufräumarbeiten auf der Homepage des Vereins o. s. Domaslav – der sich seit 2006 engagiert um die Renovierung der Jakobskirche und des Pfarrhauses bemüht – lassen erahnen, welch dichtes Gestrüpp sich zuvor zwischen den Grabsteinen ausgebreitet hatte. Auf dem zentralen Gefallenendenkmal ist die Inschrift nachgezeichnet worden und erinnert im hundertsten Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs an die Gefallenen aus Böhmisch Domaschlag, Millikau (Milkov), Saduba (Zádub) und Lohm (Lomy). Interessant ist, dass die Soldaten alle an der Ostfront, auf dem Balkan, in Italien oder in Ungarn starben – in Regionen also, die im aktuellen Weltkriegsgedenken zumindest in der Bundesrepublik Deutschland kaum wahrgenommen werden.
Der Aufenthalt auf den Friedhöfen hat mich den Orten und der Region noch einmal näher gebracht. Im nächsten Jahr möchte ich weitere Friedhöfe im Weseritzer Ländchen oder in der Umgebung besuchen und dort wieder für das Grabsteinprojekt fotografieren. Schön wäre es, wenn mein Artikel einige Leserinnen und Leser motivieren könnte, in den eigenen Herkunftsorten das Gleiche zu tun. Im Internetangebot des Grabstein-Projekts steht eine ausführliche Anleitung bereit, was beim Fotografieren zu beachten ist und in welcher Weise die Bilder auf die Plattform gelangen. Wer möchte, kann mich gerne anschreiben, ich freue mich über Rückmeldungen.
Der Beitrag ist im Heimatbrief für die Bezirke Plan-Weseritz und Tepl-Petschau, Februar 2019, erschienen.