Das Apfelfest auf dem Schwanberg

Schon viele Jahre nehme ich mir vor, das Apfelfest auf dem Schwanberg zu besuchen. Es findet stets am ersten Samstag im Oktober statt, heuer bereits zum 21. Mal. Organisiert wird das Fest von der Mikroregion Konstantinolažeňsko und dem MAS Česky Zapad mit Unterstützung der Pilsener Region. Inzwischen hat es sich zur größten Veranstaltung in der Gegend entwickelt. Zuletzt fand das Apfelfest auf dem Weseritzer Flugplatz statt, weil nur dort ausreichend Parkplätze für die vielen mit dem Auto anreisenden Besucher zur Verfügung standen. Überhaupt berichten die Organisatoren, das Fest sei immer beliebter geworden und habe in den letzten Jahren seinen ursprünglichen Charakter verloren. Zurück zu den Anfängen, hieß es, man plane für dieses Jahr in kleinerem Maßstab. Autos dürfen nicht mehr auf der Wiese unterhalb des Schwanbergs parken, sondern auf der etwas weiter entfernten Wiese hinter dem Fußballplatz in Kokaschitz. Die Zahl der Essensanbieter sowie der Tische und Bänke wurde reduziert. Die Gäste forderte man auf, stattdessen Picknickdecken mitzubringen.

Bahnhof in Pilsen, Lokalbahn über Neuhof nach Weseritz

Ein langes Wochenende in Prag nutze ich für einen Ausflug auf den Schwanberg. Am Samstag früh nehme ich den Regionalzug nach Pilsen und von dort weiter die Lokalbahn über Neuhof nach Weseritz. Verkehrstechnisch ist dieser Triebwagenzug eine Herausforderung: eine Stunde und 15 Minuten, 16 Haltestellen. Bahnliebhaber kommen aber eindeutig auf ihre Kosten. Unter den Fahrgästen des vollen Zuges bleibt die Stimmung gelöst, niemand mosert oder meckert. Was für ein Kontrast zu meinem Alltag im brandenburgischen und Berliner Nahverkehr. Die Ausblicke in die Landschaft sind traumhaft und die Überquerung der Mies auf der kürzlich renovierten Brücke ist ein Erlebnis. Für die Festbesucher besteht am Bahnhof in Weseritz ein Shuttle-Service, der Apfelexpress. Am Steuer des in die Jahre gekommenen Busses sitzt der Bürgermeister, jeder Fahrgast wird persönlich begrüßt.

Oben auf dem Schwanberg präsentieren Vereine und Initiativen ihre Arbeit, bieten Kaffee und Kuchen an, und natürlich gibt es Apfelmost und Apfelstrudel, aber auch mährischen Federweißen, slowakischen Räucherkäse, Bratwurst und Kuttenplaner Bier. Stände mit Handwerksprodukten, Spielgelegenheiten für Kinder, Staffeleien für angehende Hobbymaler, und ein Konzert des Jan Hrubý Trios in der Magdalenenkirche runden das Angebot ab. Ein Wettbewerb um das beste Apfelprodukt darf auf einem Apfelfest nicht fehlen. Mein persönliches Highlight ist aber der Stand mit „vietnamesischen Spezialitäten des singenden Kochs“. Dieser vietnamesische Koch begeistert die Zuhörer mit beliebten tschechischen Volksliedern. Das Durchschnittsalter der Festbesucher ist erstaunlich niedrig; regionale Produkte scheinen die Gäste aus der ganzen Gegend anzuziehen wie ein Magnet. Überfüllt ist der Schwanberg deswegen aber nicht. Atmosphäre statt Rummel.

Apfelfest 2023 auf dem Schwanberg

Gerne würde ich die Unterhaltungen mit Freunden, Bekannten und bislang Unbekannten, die mir auf dem Fest begegnen, noch ein wenig länger führen, aber die letzte Lokalbahn möchte ich dann doch nicht verpassen. Der Rückweg führt mich zu Fuß über Tschelief und Polschitz zum Bahnhof in Konstantinsbad. Knallrote Hagebutten leuchten am Wegesrand, die Obstbäume sind bereits herbstlich gefärbt und von verwilderten Birnbäumen fallen steinharte Früchte auf den Boden. Hinter mir liegt der Schwanberg, links der Schafberg und auf der rechten Seite der Radischer Berg. Auf Wiedersehen im Weseritzer Ländchen – nächstes Jahr.

Schwanberg mit Gut Schwanberg (Dvůr Krasíkov)

Der Beitrag ist im Heimatbrief für die Bezirke Plan-Weseritz und Tepl-Petschau, Jänner/Feber 2024, erschienen.

Jan Knap – ein Maler aus Plan

Als die Pandemie das kulturelle Leben lahmlegte, wichen viele Veranstaltungen auf den virtuellen Raum aus. So auch eine Schau mit Bildern des Malers Jan Knap. Später wurde sie dann doch noch im Museumsquartier gezeigt und konnte dort bis vor kurzem besucht werden: „Jan Knap – Jesus und die heilige Familie“. Auf der Facebook-Seite der Stadt Tirschenreuth sowie auf der Internetseite des Centrums Bavaria Bohemia ist ein Teil der Bilder weiterhin zu sehen. Knaps Werk offenbart eine frische und konzentrierte Vorstellung des Künstlers von Reinheit und Heiligkeit – die heilige Familie in unserem heutigen Alltag zwischen Idylle und Humor. Es zeigt die Gottesmutter beim Einräumen der Wäsche, Josef in der Werkstatt beim Holzhobeln, das Jesuskind in kurzen Hosen vor seiner Modelleisenbahn. Der Stil erinnert an Votivbilder, nur eben viel alltäglicher.

Plan im Juli 2021

Begleitend zur Ausstellung entstand eine Dokumentation, die das Westböhmische Museum in Pilsen (Plzeň) im vergangenen Jahr unter dem anmutigen Titel „Mein Bild ist wie das Streicheln einer armen Seele“ herausgegeben hat – ein Zitat des Künstlers, der in diesem Buch mit Texten von Jan Šícha porträtiert wird. Knap, der längst international bekannt ist, lebt seit fast zwanzig Jahren in Plan (Planá u Mariánských Lázní). Dort hat er ein gotisches Haus am Marktplatz direkt neben dem kommunalen Kino (Kinonekino) renoviert. Wie es dazu kam, schildert das Buch. Am stärksten ist die Dokumentation, wenn es um den bewegten Lebensweg des Künstlers geht: Deutschland, Brasilien, USA und Italien. Jan Knaps Blick auf das Erlebte und auf seine eigene Kunst ist wohltuend erfrischend.

Titelbild der Publikation
Titelbild der Publikation

Natürlich kommen auch Knaps Bilder in der Dokumentation nicht zu kurz. Das zweisprachige Buch (tschechisch/deutsch) strotzt nur so vor Farbe. Die Bilder wirken heiter und ruhig, fast meditativ. Aufmerksam wurde ich auf den Künstler übrigens durch Jan Šíchas „Gespräche in Plan und Tirschenreuth“ (siehe Heimatbrief vom Dezember 2019). Die aktuelle Dokumentation ist sozusagen eine Fortführung des im Jahre 2019 begonnenen Gesprächs mit Knap. Erhältlich ist sie beim Bücherhaus Rode in Tirschenreuth.

Der Beitrag ist im Heimatbrief für die Bezirke Plan-Weseritz und Tepl-Petschau, Mai/Juni 2023, erschienen.

Die lokale Aktionsgruppe Český Západ

Die lokale Aktionsgruppe Český Západ – wörtlich übersetzt: tschechischer Westen – ist seit vielen Jahren in der Region um Konstantinsbad (Konstantinovy Lázně ), Weseritz (Bezdružice), Tschernoschin (Černošín), Kladrau (Kladruby), Mies (Stříbro), Plan (Planá) und rund um die Talsperre Hracholusky tätig. Ihr Ziel ist es, die Lebensqualität in diesem ländlich geprägten Raum zu verbessern. Aber was ist eigentlich eine „lokale Aktionsgruppe“?

Das Konzept gibt es in der Europäischen Union inzwischen seit dreißig Jahren; Tschechien übernahm es mit dem Beitritt im Jahre 2004. Der Grundgedanke ist einfach: Problemlösungen sollen nicht einseitig von Regierungen vorgegeben, sondern auf lokaler Ebene aktiv entwickelt und anschließend umgesetzt werden. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft kooperieren zu diesem Zweck sektorübergreifend in lokalen Aktionsgruppen. Deren Mitglieder setzen sich aus Gemeinden sowie gemeinnützigen oder privaten Einrichtungen bzw. Unternehmen so zusammen, dass keine Interessengruppe die Entscheidungen dominieren kann. Die regionale Entwicklung wird also von jenen gefördert, die in der Region leben und mit den lokalen Verhältnissen vertraut sind.

In der lokalen Aktionsgruppe Český Západ engagieren sich zahlreiche Organisationen. Um Fördermittel aus den Fonds der Europäischen Union zu erhalten und ausreichen zu können, muss sie eine sogenannte Strategie erarbeiten und die Europäische Union davon überzeugen, dass sie die ihr anvertrauten Mittel innerhalb einer bestimmten Förderperiode effizient und sinnvoll einsetzen kann.

Was zunächst nach grauer Theorie aus einem politikwissenschaftlichen Proseminar klingt, funktioniert in der Praxis erstaunlich gut. Die Ergebnisse sind auch für Besucher der Region sichtbar. An dem Logo von Český Západ kommt man eigentlich nicht vorbei, man braucht bloß hinzuschauen.

Český Západ hat inzwischen mehrere hundert Projekte mit erheblichen Fördermitteln unterstützt, beispielsweise Agrarunternehmen, landwirtschaftliche Produkte, Kleinunternehmen und touristische Vorhaben. Auch soziale Dienste, Gemeindezentren, Kindergärten und Schulen profitieren davon. Die Aktionsgruppe stellt auch selbst zahlreiche Projekte auf die Beine. Dazu gehören zum Beispiel das jährliche Apfelfest auf dem Schwanberg (Krasíkov), das im letzten Jahr erstmals auf dem Flugplatz in Weseritz stattfand, das barocke Gartenfest auf dem Schloss in Schweißig (Svojšín) oder die Verkaufsgalerie „Švihákův pavilon“ in Konstantinsbad. Auch eine eigene Marke für regionale Produkte aus Westböhmen hat Český Západ entwickelt. Sehr beliebt sind die Ferienlager für Kinder, die jedes Jahr im Sommer stattfinden.

Die Weseritzer kennen die lokale Aktionsgruppe Český Západ aus dem vor einigen Jahren sehr gelungen renovierten Dům U Haranta – in der ehemaligen Zweigstelle der Planer Sparkasse hat sie ihren Sitz. Die dort beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vermögen auf der Klaviatur der europäischen Förderfonds gekonnt zu spielen.

Český Západ kümmert sich auch um das reiche kulturelle Erbe der Region. So trägt die lokale Aktionsgruppe beispielsweise zur Restaurierung ausgewählter Sakraldenkmäler bei, bietet nostalgische Fahrten mit der Dampflok auf der Weseritzer Lokalbahn an und hat eine Wanderausstellung über die inzwischen vollständig renovierte und wieder in Betrieb befindliche Eisenbahnbrücke über die Mies bei Neuhof (Pňovany) entwickelt.

Ein schönes Beispiel für Förderung des vorhandenen Potenzials ist die Entwicklung der Umgebung des Alten Bades in Konstantinsbad zu einem Sport-und Freizeitgebiet. Vor einiger Zeit ist dort ein Waldpark entstanden, der die doch etwas im Schatten ihrer großen Schwestern stehende Kurstadt erheblich aufwertet. Wer will, kann den Barfußweg ausprobieren oder interaktive Musikelemente erklingen lassen.

Trotz der massiven Einschränkungen, die mit den Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus einhergehen, engagiert sich Český Západ auch in der aktuellen Förderperiode dafür, dass die zur Verfügung stehenden europäischen Gelder von den westböhmischen Unternehmen und Einrichtungen auch wirklich abgerufen werden können. Bleibt zu hoffen, dass die bisherigen Erfolge alle Widrigkeiten der Pandemie überdauern.

Der Beitrag ist im Heimatbrief für die Bezirke Plan-Weseritz und Tepl-Petschau, März 2022, erschienen

Zweisprachige Dokumentation historischer Friedhöfe im Egerland erschienen

Vor vielen Jahren habe ich damit begonnen, die Geschichte meiner Familie mütterlicherseits – der Holdschicks aus Weseritz – zu erkunden. Neben Archiven und Verwaltungen besuchte ich auch Friedhöfe in der Umgebung. Die Atmosphäre auf einigen von ihnen nahm mich schnell gefangen. Teilweise waren die historischen Grabsteine zwar vollständig abgeräumt, zerstört oder umgesetzt worden, manche Friedhöfe hatten die Wirren der Nachkriegszeit aber weitgehend unberührt überstanden. Während die Bevölkerung in den Städten und Dörfern des Egerlandes fast vollständig ausgetauscht wurde, blieben die Verstorbenen nach 1946 einfach auf diesen Friedhöfen wohnen. Für die neuen Egerländer waren sie Fremde, ihre Gräber gerieten weitgehend in Vergessenheit. Baumwurzeln, Büsche und Efeu haben ihnen oft massiv zugesetzt. Noch stehen aber zahlreiche Grabsteine – eine wertvolle historische Erinnerung. Sie sind ein Spiegel ihrer Zeit, aber auch des Umgangs mit der gemeinsamen Vergangenheit nach dem Zweiten Weltkrieg, während des Kommunismus und nach der Samtrevolution. Wäre es nicht ein Verlust, wenn sie allmählich und unbemerkt einfach verschwänden?

Deckblatt des Buchtitels "Historische Friedhöfe in Weseritz, Plan und Umgebung"
Deckblatt des Buchtitels „Historische Friedhöfe in Weseritz, Plan und Umgebung“

Das Grabstein-Projekt des Vereins für Computergenealogie bezweckt die fotografische Dokumentation der Grabsteine und deren Erfassung in einer Datenbank. Dies dient genealogischen Zwecken, aber auch dem Andenken an die Verstorbenen und – aus kulturhistorischer Sicht – der Dokumentation historischer Denkmale. Mit dem Projekt wird ein wichtiger Teil der Kultur für die nachfolgenden Generationen konserviert. Beim Stöbern in dieser Datenbank fand ich bereits zahlreiche Eintragungen aus der Tschechischen Republik und nahm mir vor, sie um die Friedhöfe aus den Regionen Weseritz und Plan zu ergänzen.

Ausgestattet mit meiner Kamera, einer Gartenschere, einer Wurzelbürste, einer Wasserflasche und einem Putztuch besuchte ich zwischen 2018 und 2020 insgesamt 43 Friedhöfe in Westböhmen. Die Arbeit ähnelte insbesondere im Sommer einem Aufenthalt im Dschungelcamp: Stechmücken, Kreuzspinnen, Bremsen, hüfthohe Brennnesseln und Kletten. Entstanden sind 5.400 Fotografien von schätzungsweise knapp halb so vielen Grabsteinen in ganz unterschiedlichen Erhaltungszuständen.

Die aufbereitete Darstellung des Vereins für Computergenealogie (grabsteine.genealogy.net) kombiniert die Fotoaufnahmen der einzelnen Grabsteine mit den Namen der Verstorbenen und ermöglicht eine gezielte Recherche. In voller Bildauflösung und ergänzt um eine Namensliste der Verstorbenen sowie um eine Übersicht der historischen Einpfarrungen sind die Bilder auch auf meiner Website (sven-mueller.info) zu finden.

Mit dieser Broschüre möchte ich einige Eindrücke von meinen Besuchen auf den historischen Friedhöfen im Egerland vermitteln. Ich würde mich freuen, wenn die Bilder dazu beitragen, genauer auf die Friedhöfe rund um Weseritz und Plan zu schauen und sie als Orte der Erinnerung zu bewahren. Auch ist es mir ein Anliegen, zu zeigen, dass sich bereits viele Initiativen für ihren Erhalt einsetzen, die fortzuführen aller Mühen wert sind.

Weiter zur Dokumentation „Historische Friedhöfe in Weseritz, Plan und Umgebung“.

Weiter zu den Fotografien der Friedhöfe.

Herr, Du hast mich gerufen, ich komme.

Im Februar 2019 habe ich an dieser Stelle über die Gräber unserer Vorfahren im Internet berichtet. Das Vorhaben, die Grabsteine weiterer Friedhöfe in der weiteren Umgebung von Weseritz (Bezdružice) zu fotografieren, konnte ich im zurückliegenden Sommer fortführen – in Mariafels (Slavice), Plan (Planá), Punnau (Boněnov), Schippin (Šipin), Schweißing (Svojšín), Tschernoschin (Černošín), Eisenhüttel (Záchlumí), Leskau (Lestkov), Obergosolup (Horní Kozolupy), Scheibenradisch (Okrouhlé Hradište) und Kurschin (Kořen). Meine Blicke und Gedanken blieben dort oft an verblassten oder überwachsenen Inschriften hängen. Auf den Friedhöfen in Schippin und Schweißing boten diese ein besonders vielfältiges Bild. Einige Eindrücke möchte ich hier gerne teilen.

Vater und Mutter zu ehren ist auf den Friedhöfen nicht das vierte, sondern das erste Gebot, so auch im Falle dieses Unbekannten in Schippin:

Was unser Vater uns gewesen,
Das sagt nicht dieser Leichenstein,
Doch Mit- und Nachwelt sollen lesen,
Das wir auf ewig Dank ihm weih’n.

Während Väter in der Regel solch weltlichen Dank ernten, werden Müttern schon mal höhere Weihen zuteil – auch dies ein namenloses Schippiner Grab:

Mutter in des Himmels Höhen,
Schau segnend auf uns herab,
Wo Gatte und Dein Kind hier stehen,
Trauernd hier an Deinem Grab.

Der in Schweißing bestatteten Franziska König aus Praschka (Pražka) gönnen die Kinder immerhin ganz uneigennützige, jenseitige Freuden, nachdem sie 64jährig aus dem Leben geschieden war:

Gute Mutter, nun erlöst von Leiden,
Decket Dich der Friedhofshügel zu,
Dein Geist genießet Himmelsfreuden,
Ohne End in jener ew’gen Ruh!

Grabstein auf dem Friedhof in Schippin 2019

Über Tote soll man nichts Schlechtes sagen – diese Benimmregel haben sich die Angehörigen von von Engelbert Schuster, einem im 45. Lebensjahre verstorbenen Heger aus Pokeslav (Pakoslav), zu Herzen genommen, nachdem sie ihn im Jahre 1927 in Schippin bestatten mussten:

Als Gatte, als Vater, als Freund,
Ruht hier, von vielen beweint,
Ein Mann der Tugend stets übte,
Und Treue und Redlichkeit liebte.

Das Grab der im 29. Lebensjahre verstorbenen Kathi Hammerl aus Pittlau (Pytlov) befindet sich auf dem Schweißinger Friedhof:

Ein kurzer Traum nur war Dein Leben.
Doch wird uns nie Dein Bild entschweben.
Du warst gebrochen ehe wir’s gedacht.
Wie eine zarte Knospe über Nacht.

Als tragisch haben Eltern schon immer den Tod von Kindern empfunden, wenngleich er früher sicher häufiger vorkam als heute. Der kleine Hans Götz aus Schweißig starb 1922 im Alter von einem halben Jahr:

Dem Englein rein und zart
Ward Erdenleid erspart.

So mancher Reim wie jener auf dem Grabstein des im Jahre 1931 in Schippin beerdigten, zweijährigen Willibald Anton Rosner aus Müllowa (Mydlovary) erscheint heute ein wenig gewöhnungsbedürftig:

Dem Vater und des Mutter mein,
War ich ein liebes Söhnchen.
Gott aber, dem ich lieber war,
Nahm mich auf zur Engelschar.

Kommt der Tod nicht immer zu zeitig? So empfanden das wohl auch die Angehörigen der Theresia Kohut aus Gesürzen (Jiřské). Sie starb im Jahre 1942 mit fast 70 Jahren und fand in Schweißing ihre letzte Ruhe:

Früh bleicht der Tod die Wangen,
An denen unser Herz gehangen,
Der Herr ist nun Dein treuer Hort,
Sein Segen blüht dir fort und fort,
In seines Reiches Herrlichkeit,
Bringt Freuden und die ew’ge Zeit.

Auf dem Grabstein von Andreas und Marie Zimmer aus Praschka, gestorben in den Jahren 1909 und 1916, hat sich der Patriotismus des Ersten Weltkriegs bereits in die Wortwahl eingeschlichen:

Ins Vaterland,
In jene besseren Höhen,
Führt uns der Tod,
Bis wir uns wiedersehen.

Vermutlich dem Sohn der Verstorbenen – Infanterist Karl Zimmer, gestorben 21jährig im Jahre 1917 in Pilsen (Plzeň) – ist eine Gedenkplatte gewidmet, die an den Grabstein der Zimmers angelehnt ist. Aus dem himmlischen Vaterland der Eltern wurde hier schnell eines, das ganz von dieser Welt war:

Ein Krieger aus bedrückter, böser Zeit,
Dem Kaiser treu, dem Vaterland ergeben,
Mit Eifer dem Beruf geweiht,

Hat vollbracht ein edles Menschenleben.

Die meisten Eltern konnten ihren Söhnen, die im Ersten Weltkrieg nachgerade verheizt worden waren, nur einen Gedenkstein widmeten, weil deren sterblichen Überreste nie überführt wurden. So ruht wohl auch der 31jährige Vater Andreas Sturm aus Losau (Lažany) in fremder, russischer Erde. Er wurde bereits im ersten Kriegsjahr vermisst:

Sein Leben stand in Gottes Hand,
Denn er starb für’s Vaterland.

Grabstein auf dem Friedhof in Schweißing 2019

Buchstaben gab es nicht umsonst. Im Falle des Franz Glosauer aus einer Schweißiger Müllersfamilie lässt die Sparsamkeit der Angehörigen ihre Nachwelt rätseln:

absol. Gimniasiast der nach 6 jäh. sieb Gefangsch.
sanft im Herrn am 25.8.1924 im 30. Lebensj. entschlafen ist – R.I.P.

Der Obergefreite Anton Denglmann aus Lohm starb 1942 im dreißigsten Lebensjahr im Lazarett in Marienbad (Mariánské Lázně), bestattet ist er auf dem Friedhof in Schweißing:

Teilnehmer an den Feldzügen Luxemburg, Belgien, Frankreich, am Balkan und Russland, eine heimtückische Krankheit, die er sich im Osten zuzog, raffte ihn dahin. Meine Hoffnung sank ins Soldatengrab, in uns lebt er weiter. Die Heimaterde sei Dir leicht!

Wenige Jahre später sollten Flüchtlinge und Vertriebene in der späteren Bundesrepublik mit ganz ähnlichen Worten bestattet werden: Die fremde Erde sei Dir leicht!

Eindeutig religiöse Bezüge fand ich ziemlich selten. Mich hat das überrascht, steht der katholische Glaube in den Erzählungen über Kultur und Tradition der alten Heimat doch oft im Mittelpunkt.

Ihr rufen unsere Tränen,
Den Abschiedsgruß zur Gruft,
Erfüllt wird unser Sehnen,
Dann, wenn auch Gott uns ruft.

Gerufen wurde in diesem Fall die 74jährige Theresia Heieis aus Müllowa, gestorben am 24. August 1923, bestattet auf dem Friedhof in Schippin.

Ganz fromm verschied Marie Prockl aus Müllowa (1936 – 1917). Das meinten jedenfalls ihre Angehörigen, die ihr auf dem Schippiner Friedhof folgenden Nachruf widmeten:

Selig alle die dem Herrn entschliefen.
Selig Mutter, selig bist auch Du.
Engel brachten Dir den Kranz und riefen.
Und Du gingst zu Deines Gottes Ruh.

Religiöse Utopien werden nur ausnahmsweise beworben, so zum Beispiel von den Angehörigen des Wenzel Hampl aus Kschellowitz (Křelovice), gestorben im Mai 1922 als 25jähriger, bestattet in Schippin:

Mag das Grab mich immer decken,
Er, mein Jesus, wird mich wecken,
wenn der große Tag erscheinet,
Der sein Volk vor ihm vereinet.

Von einer Auferstehung ist kaum die Rede. Die meisten Gräber hat der Gekreuzigte fest im Blick. Manchmal klingt der Blick ins Jenseits aber auch recht erfrischend – wie im Falle des Hans Rupp, der seit dem Jahre 1954 auf dem Schweißinger Friedhof begraben liegt:

Aus fernen Himmelshöhn
Winkt ein frohes Wiedersehn.

Mitunter gerät die Trauer ein wenig anklagend, vielleicht auch trotzig, wie in diesem namenlosen Fall:

Dein treues Herz hört auf zu schlagen,
Weilt in einem höheren Licht,
Du hörest nicht der Kinder Klagen,
Siehst Deiner Lieben Tränen nicht.

Manche Hinterbliebene legten den Toten ihre Worte in den Mund, sodass der Eindruck entsteht, diese würden den Besucher aus ihren Gräbern heraus unmittelbar ansprechen. Barbara Mattis aus Pokeslav, die im Jahre 1917 im Alter von 63 Jahren verstarb, fordert auf diese Weise:

Tretet her zu meinem Grabe,
Störet mich nicht in meiner Ruh,
Denkt was ich gelitten habe,
Gönnt mir jetzt die süße Ruh.

Erstaunlich fand ich, dass manche Inschriften sich um die Verstorbenen überhaupt nicht kümmern, sondern ganz allgemein an die Friedhofsbesucher appellieren. So ließen die Hinterbliebenen von Johann und Anna Karnoll aus Kschellowitz, gestorben 1937 und 1926 auf dem Friedhof in Schippin, wissen:

Auch uns schlägt einst die Stunde,
Wo matt das Auge bricht,
Wenn Gottes Hand uns winket,
Dann steigen wir zum Licht.

Aber auch schlichte Abschiedsworte wie jene für Wenzl und Anna Schmitzer aus Gesürzen, die in den Jahren 1936 und 1924 in Schweißing beigesetzt wurden, verfehlen ihre Wirkung nicht:

Euch der Friede.
Uns der Schmerz.

Kurz und bündig verabschiedete sich Wilhelm Günzel, Militär- und Distriktsarzt, gestorben 78jährig im Feber 1917, auf dem Schweißinger Friedhof:

Herr, Du hast mich gerufen, ich komme.

Der Beitrag ist im Heimatbrief für die Bezirke Plan-Weseritz und Tepl-Petschau, Mai/Juni 2020 (Teil 1) und Juli 2020 (Teil 2), erschienen

Das Pfarrhaus in Böhmisch-Domaschlag

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Eines kann man den Pfarrern in Böhmisch-Domaschlag/Domaslav nicht vorwerfen, nämlich dass sie Duckmäuser gewesen wären. Bereits im 15. Jahrhundert verlor Pfarrer Marschik seine Stelle, weil er die Glaubenslehre des Theologen, Predigers und Reformators Jan Hus verbreitete. Nach der deutschen Annexion im vergangenen Jahrhundert hielt Pfarrer Womes die Kinder an, auf christliche Weise zu grüßen, anstatt den Hitler-Gruß zu zeigen. Er hielt sich nicht an ein daraufhin erlassenes Verbot, Religion zu unterrichten, und wandte sich in seinen Predigten gegen die schlechte Behandlung der Tschechen durch das Regime. Im Sommer 1940 wurde er denunziert, von der Gestapo verhaftet und im darauffolgenden Frühjahr nach Dachau deportiert. Nach der Vertreibung, im Jahr 1947, kam der engagierte Pfarrer Hradecký nach Böhmisch-Domaschlag – er gründete ein beliebtes Amateurtheater und begeisterte die neuen Bewohner mit Fußball. Als Gegner des kommunistischen Regimes musst er jedoch bereits 1952 die Gemeinde verlassen. Seinen unmittelbaren Nachfolger nannte man den „Mechanikpfarrer“ wegen seiner Vorliebe für Motorräder. In den sechziger Jahren schließlich kam Pfarrer Španihel in das lange verwaiste Pfarrhaus. Man hatte ihn aus denselben Gründen nach Böhmisch-Domaschlag verbannt, wie man Hradecký zuvor von dort weggeschickt hatte – wegen kritischer Äußerungen über das Regime.

Sankt-Jakobs-Kirche in Böhmisch Domaschlag 2018

Später, in den achtziger Jahren, betreute Pfarrer Chroust die Gemeinde und entwickelte das Pfarrhaus zu einem Treffpunkt für junge Menschen. Er galt – gemessen an der damaligen Zeit – als ziemlich alternativ und war schon deshalb unbequem, weil er junge, oft unangepasste Leute begeistern und zusammenbringen konnte. Das hatte zwar auch ihm die Versetzung nach Böhmisch-Domaschlag eingebracht, aber die jungen Menschen aus den größeren Städten folgten Chroust trotzdem. Sie kehrten immer wieder zurück, auch als der Pfarrer schon nicht mehr in dem Ort tätig war. An die Gemeinschaft, die daraus entstand, knüpfte – ausgehend von einer Idee des Bistums – der Verein Cantate an. Er sollte für leerstehende Gebäude in der Region eine sinnvolle Nutzung finden. Cantate richtete das Pfarrhaus als Veranstaltungs- und Erholungsort für Kinder und Jugendliche, hauptsächlich aus Pilsen/Plzeň, neu aus. Die Gäste entwickelten gleichzeitig ein wachsendes Interesse an der Gegend und ihrer vielfältigen Geschichte.

Cantates Aufgaben in Böhmisch-Domaschlag führte schließlich der Verein o. s. Domaslav fort, der sich im Jahr 1998 gründete. Die Mitglieder kümmern sich bis heute um die Jakobus-Kirche und das Pfarrhaus und organisieren eine Reihe von Kulturveranstaltungen. So finden regelmäßig Literaturtage sowie Aktionen von Landschaftskünstlern statt. Viele waren schon als Kinder regelmäßig in diesem Ort, zum Beispiel im Rahmen von Freizeitaktivitäten oder Ferienlagern. Seit Jahren bemüht sich der Verein um Fördermittel für die Renovierungsarbeiten. Im Jahr 2006 sprang zunächst der von der Bürgermeisterin aus Wolfersdorf/Olbramov, Válová, gegründete Verein Pomozme si sami (Helfen wir uns selbst) ein, später kamen Fördermittel auch vom tschechischen Kulturministerium – allerdings so wenig, dass immer nur ein kleiner Teil des völlig desolaten Dachs repariert werden konnte. So geht das heute noch, an einer Stelle wird repariert, an einer anderen nagt weiter der Zahn der Zeit. Doch die Fortschritte – zum Beispiel das schmucke, rote Dach des Kirchturms – sind nicht zu übersehen. Selbstzweck ist die Renovierung der Kirche nicht, vielmehr geht es dem Verein auch darum, die Versöhnung zwischen den Böhmen deutscher und tschechischer Zunge voranzubringen.

Altarraum der Sankt-Jakobs-Kirche in Böhmisch Domaschlag 2018

Zunächst mussten die Mitglieder des Vereins den Schlüssel zum Pfarrhaus, in dem schon lange kein Pfarrer mehr wohnt, noch in der Diözesanverwaltung ausleihen. Inzwischen gehört es dem Verein. Der Pilsener Bischof Radkovský hatte sich für den Übergang des Eigentums eingesetzt, bevor er im Jahre 2016 emeritierte. Auf den Verein kam damit eine große Verantwortung zu. Das Pfarrhaus wird schließlich weiterhin von Pfadfindern und Schulkindern für Freizeiten genutzt. Hier können die Kleinen malen und töpfern und es darf auch einmal etwas danebengehen – es ist eben kein feines Hotel. Ganz nebenbei setzen sich die Kinder auch mit der Region und ihrer Geschichte auseinander. Es mag merkwürdig klingen, aber alleine schon der Besuch der alten Kirche ist für sie zumeist etwas Unbekanntes und Abenteuerliches. Das Gebäude kann man für Gruppen übrigens auch mieten.

Innenansicht aus der Sankt-Jakobs-Kirche in Böhmisch Domaschlag 2018

Im Sommer wird das Pfarrhaus während der Wochenenden oft von bis zu zwanzig Vereinsmitgliedern belebt. Anfangs kamen sie vom Bahnhof in Kokaschitz/Kokašice noch zu Fuß hier herauf, mittlerweile mit Fahrzeugen direkt aus Pilsen. Viele haben inzwischen Familien gegründet und bringen – neben Werkzeugen und anderen Utensilien für die Arbeiten am Pfarrhaus und in der Kirche – auch ihre Kinder mit. So kommt auch außerhalb der Freizeiten wieder Leben in den kleinen Ort, in dem heute nicht einmal ein Zehntel der Einwohnerzahl vor der Vertreibung erreicht wird. Auch wenn es wenige sind, musste sich das Verhältnis zu den Pilsener Neuankömmlingen erst einmal einspielen. Gefallen hat es hier auch jungen tschechischen Musikern aus der Umgebung (Lidová muzika z Chrástu – Volksmusik aus Chrast), die in der Landschaft um Böhmisch-Domaschlag, die sie immer wieder besuchen, einen kleinen, aber flotten Musikfilm gedreht haben.

Lidová muzika z Chrástu – Volksmusik aus Chrast

Der Kontakt der ehemaligen deutschen Bewohnern nach Böhmisch-Domaschlag war nie wirklich abgerissen. Einzelne Verbindungen bestanden auch während des Kommunismus, wenngleich natürlich nicht so offen wie heute. Im Jahr 2007 fand das erste „Treffen/Setkání“ statt – eine Zusammenkunft des Vereins mit ehemaligen und heutigen Domaschlagern. Zwei Jahre später setzten sich Jugendliche aus dem Grenzgebiet zwei Wochen lang mit Gegenwart und Geschichte des Ortes und der Region auseinander. Zu dem Projekt, das in Kooperation mit der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e. V. durchgeführt wurde, gehörten neben umfangreichen Instandhaltungsarbeiten auch eine Reihe von Gesprächen der jungen Menschen mit den ehemaligen und heutigen Bewohnern sowie eine Ausstellung. Die aufschlussreichen und ansprechend illustrierten Interviews sind in dem Bändchen „Jako doma – wie zu Hause“ nachzulesen, das im Internetangebot des Vereins (http://www.domaslav.cz) veröffentlicht ist.

Das Pfarrhaus in Böhmisch Domaschlag 2018

Das „Treffen/Setkání“ findet weiterhin jeden Sommer statt – stets an einem Sonnabend um den Festtag des Gemeindepatrons Jakobus. Die Zahl der ehemaligen deutschen Bewohner, die daran teilnehmen, wird immer geringer, dafür toben die Kinder der Vereinsmitglieder durch den großzügigen Garten des Pfarrhauses. Der freundliche und zugewandte Pfarrer Šašek aus Plan/Planá zelebriert die zweisprachige Heilige Messe zur Eröffnung des Treffens. Wäre Gottes Bodenpersonal überall so aufgestellt, so bemerkte eine Teilnehmerin beim letzten Mal, würden der katholischen Kirche auch weniger Gläubige weglaufen. Böhmisch-Domaschlag zieht offenbar engagierte Menschen geradezu an, seien es Pfarrer, Jugendliche, Einwohner oder Besucher. Das alte Pfarrhaus jedenfalls liegt mitten im Zentrum dieses Magnetfeldes.

Der Beitrag ist im Heimatbrief für die Bezirke Plan-Weseritz und Tepl-Petschau, Feber 2020, erschienen

Grenznah – Gespräche in Plan und Tirschenreuth

Der Titel der Dokumentation „Grenznah – Gespräche in Plan und Tirschenreuth“ ist Programm. Ihr Autor, Jan Šícha, verliert den heimlichen Protagonisten seines Buches nie aus dem Blick – die Grenze und wie sie den Alltag in der Oberpfalz und im Egerland beeinflusste. Er hat Zeitzeugen gefunden, die Auskunft geben können über Jahrzehnte ihres Lebens in Plan und Tirschenreuth, also beiderseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs. Die Gespräche entstanden im Rahmen des Projekts zur Gründung eines Museums sowie von Kultur- und Freizeiträumen im ehemaligen Münzhaus der Familie Schlick in Plan. Der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds ermöglichte ihre Dokumentation in deutscher und tschechischer Sprache. Für Zeitzeugeninterviews lesen sich die Texte ungewohnt flüssig und zeigen, wie erfolgreich Šícha seine Gesprächspartner nicht nur mit kenntnisreich vorbereiteten, sondern auch sehr einfühlsamen Fragen zum Erzählen brachte.

Als Erste kommt Markéta Novotná zu Wort, die als Archivarin einen besonderen Blick auf die Geschichte der Grenzregion hat. Weseritzer kennen sie als Autorin der Dokumentation zum 550. Jahrestag der Stadterhebung und der beiden Bände mit historischen Ansichtskarten. Im Gespräch mit Šícha wird deutlich, wie wichtig Novotná die Aufgabe ist, der Gegend ihre Erinnerungen zurückzugeben. Josef Staněk, der als Lehrer aus dem Schulbetrieb entlassen wurde, weil er den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes im August 1968 kritisiert hatte, schildert sehr anschaulich, dass der Prager Frühling und die Samtene Revolution nicht nur in der fernen Hauptstadt, sondern auch in Plan stattgefunden haben. Einer ganz anderen Beschäftigung ging Jan Teplík nach: Er arbeitete unter anderem im Grenzsperrgebiet Hinterkottens im Uranbergbau und gründete später das Bergwerksmuseum in Plan. Michaela Mertlová geht auf die kommunistische Vergangenheit des Grenzbezirks ein und berichtet unter anderem über das Planer Krankenhaus, von dem es heiße, es sei wie an der Front gebaut – die Operationssäle in der Mitte des Gebäudes, damit man nur schwer in sie hineinschießen kann. Aber auch über die Mühen des privaten Hausbaus während des Kommunismus erfährt man von der späteren Mitbegründerin des Planer Bürgerforums. Zu Wort kommt auch Michaela Vrzalová, die Ehefrau des früheren Planer Bürgermeisters, die selbst Zeitzeugengespräche geführt hat. Petr Pilný, ein langjähriger Kunsttischler, hat unter anderem Restaurierungsarbeiten in der Mariä-Himmelfahrt-Kirche in Plan geleistet. Von Jiří Otta, einem Planer Förster, erfährt der Leser, dass der aus Asien stammende Sikahirsch den einheimischen Rothirsch zunehmend aus den Wäldern verdrängt und beide Arten sich sogar kreuzen. Den Namen „Dr. Popov“ bringt man in Tschechien mit dem Slogan „Freund Ihrer Gesundheit“ in Verbindung. Der mit Natur- und Kräuterprodukten erfolgreiche Inhaber dieser Planer Firma, Pavel Popov, betont die Bedeutung einer individuellen unternehmerischen Mission. Ein ausführliches Gespräch hat Šícha mit dem Künstler Jan Knap geführt, der aus seinem – auch geographisch – bewegten Leben erzählt. Den Wunsch, Priester zu werden, hatte er aufgegeben und begann mit der Malerei: „Ich malte ein Bild, auf dem die Jungfrau Maria bügelt und das Jesuskind unten unter dem Bügelbrett spielt. Ein Gynäkologe kaufte es und hängte es in seinem Wartezimmer auf. Meine künftige Frau sah das Bild und kam, um mich kennenzulernen.“

Plan – Blick vom Schlossteich auf die ehemalige Volks- und Bürgerschule

In Tirschenreuth sprach Šícha mit Eberhard Polland, der zunächst alte Fotos aus der Stadt zusammengetragen hat und inzwischen die ehrenamtliche Funktion des Stadtheimatpflegers ausübt. Ingrid Leser und ihre wenige Wochen nach dem Interview mit Šícha verstorbene Mutter Hildegard Leser geben in einem gemeinsamen Gespräch Einblicke in das Leben in Plan vor der Vertreibung, über die schwierige Zeit nach dem Krieg und die Planer und Mähringer Anna-Wallfahrten. Über die Erfolgsgeschichte und die sichtbaren Spuren der Vertriebenen in Tirschenreuth berichtet Horst Adler, der selbst aus Asch stammt. Margret Schels, die am Marktplatz eine Metzgerei betreibt, antwortet auf die Frage, warum sie keinen Urlaub macht: „Meine Kunden würden einen Herzinfarkt bekommen“ und fasst damit eine fast verschwundene Philosophie kleiner Familienunternehmen zusammen. Um die Instandsetzung der Planer Annakirche geht es in Šíchas Gespräch mit dem ehemaligen Grenzpolizisten Herbert Konrad. Florian Winklmüller, Jesusdarsteller in den Tirschenreuther Passionsspielen, schildert seine Schwierigkeiten als zugezogener Langhaariger in den sechziger Jahren. Man liest dies als spannenden Kontrast zu den vorgenannten tschechischen Lebenserfahrungen aus derselben Zeit – das Jahr 1968 hüben und drüben. Als Rückkehrer leitet der Journalist Ludwig Bundscherer derzeit die Tourismus-Information der Stadt Tirschenreuth und das MuseumQuartier. In seinen Ausführungen über Heimat bemerkt er, in Tschechien oft nur Steak und Pizza anstatt Tachauer Hammelfleisch oder einen Hirsch aus Plan auf einer Speisekarte zu finden. Zum Museum des Heimatkreises Plan-Weseritz, das eine Abteilung des Museumsquartiers ist, betont er dessen versöhnlichen Charakter als Voraussetzung für eine gute Nachbarschaft. Schließlich kommt noch Peter Brückner zu Wort, der Architekt des Centrums Bavaria Bohemia in Schönsee sowie des Umbaus des Tirschenreuther Marktplatzes. Er steht für eine Architektur, in der Philosophie und Pragmatismus zusammenfinden, Stein und Mensch sozusagen.

Jan Šícha widmet die Dokumentation allen, die an der Grenze starben, auch allen, die über diese Grenze in den Zügen in die Konzentrationslager oder bei der erzwungenen Aussiedlung nach dem Krieg hin- und hergefahren sind. Entstanden ist ein Zeugnis der regionalen Geschichte, das teils trotz, teils wegen der historischen Veränderungen Zuversicht für das Egerland und die Oberpfalz vermittelt. Das Portal bbkult.net hat schrittweise alle 18 Gespräche aus diesem Buch veröffentlicht.

Der Beitrag ist im Heimatbrief für die Bezirke Plan-Weseritz und Tepl-Petschau, Dezember 2019, erschienen

Wiederentdeckte Schätze im Sudetenland

Meine ersten Fahrten in die Heimat meiner Großeltern unternahm ich in den neunziger Jahren. Obwohl ich damals natürlich längst in Farbe fotografiert habe, versprühen meine Aufnahmen den Charme verstaubter Schwarz-Weiß-Bilder. Ich hatte das Gefühl, tiefe Traurigkeit hätte sich in dieser doch so schönen Grenzlandschaft eingenistet. Die meisten Bewohner schienen sich nicht sonderlich für ihre Umgebung zu interessieren. Dass es auch damals schon andere Beispiele gab, war meiner Aufmerksamkeit entgangen. Inzwischen ist dies aber nicht mehr zu übersehen. Anders als in vielen Organisationen der Vertriebenen in Deutschland stellen sich in Böhmen vor allem junge Menschen der Teilnahmslosigkeit entgegen. Zahlreiche örtliche Initiativen engagieren sich inzwischen nicht zuletzt im Egerland für eine Region, die längst auch ihre Heimat ist. Ein Beispiel ist das Zentrum für kommunale Arbeit Westböhmen.

In den letzten Jahren hat das Zentrum für kommunale Arbeit Westböhmen drei umfangreiche Dokumentationen zum westböhmischen Grenzgebiet herausgegeben: „Lebendes Gedächtnis der Sudeten“ (2011), „Geschichten aus dem Sudetenland“ (2013) und „Wiederentdeckte Schätze im Sudetenland“ (2018). Die Bände entstanden in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule im Landkreis Cham e. V. Alle drei Publikationen bieten anschauliche Einblicke in die Geschichte und Gegenwart Westböhmens.

Das „Lebende Gedächtnis der Sudeten“ stellt Interviews mit Zeitzeugen in den Mittelpunkt. Die Gespräche wurden mit ursprünglichen deutschen Bewohnern Westböhmens, Zeitzeugen aus rein deutscher Umgebung sowie mit solchen aus gemischt tschechisch-deutschen Familien durchgeführt. Zudem enthält der Band Erlebnisberichte von Menschen, deren Umfeld rein tschechisch war. Der Leser begegnet untergegangen Orten, dem Bergbau im Grenzgebiet und der Neubesiedlung des Sudetenlands durch die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen. Die Zeitzeugen berichten über ihre grenzübergreifenden Kontakte, die den Kalten Krieg überdauerten, und über ihr Engagement für die Sanierung von Kulturdenkmalen. Der regionale Fokus des Bandes liegt im Umkreis von Tachau, Mies, Staab, Bischofteinitz sowie im Oberpfälzer Wald; sein Untertitel lautet: „Lebensgeschichten der Zeitzeugen aus Westböhmen“.

Gewissermaßen eine Fortsetzung im Sinne dieses Untertitels sind die „Geschichten aus dem Sudetenland“. Wiederum führten die Autoren Interviews mit Vertriebenen, Verbliebenen und Neusiedlern, unter anderem mit sogenannten Reimmigranten, deren Familien nach dem Zweiten Weltkrieg dem Ruf der damaligen tschechoslowakischen Regierung folgten, aus der Ukraine oder Polen nach Westböhmen zu kommen. Die Berichte dieser Zeitzeugen verdeutlichen, vor welche Herausforderungen die großen geschichtlichen Ereignisse sie alle stellten. An die Interviews schließt sich ein Kapitel an, das die gesammelten Geschichten in den historischen Kontext seit dem Zerfall der Donaumonarchie einbindet. Die Autoren verstehen die Publikation als Beitrag zur Wiederentdeckung der Häuser, Gemeinden und Landschaften, die über viele Generationen von Böhmen beiderlei Zunge errichtet wurden. Ihre Hoffnung ist es, das Interesse der Menschen an Geschichte und Gegenwart der Region zu steigern und ein neues Band zwischen ihnen und dem Ort, an dem sie leben, zu knüpfen.

Eine ganz andere Perspektive nimmt der jüngste Band „Wiederentdeckte Schätze im Sudetenland“ ein. Hier geht es nicht primär um individuelle Erinnerungen, sondern vielmehr um einzelne Kulturdenkmale und Traditionen Westböhmens. Die Projektpartner haben sechs solcher Sehenswürdigkeiten und Traditionen dokumentiert, die in den letzten Jahren wieder zu neuem Leben gelangt sind. Ihnen ist es gelungen, auf beiden Seiten der Grenze Menschen zu finden, die sich der Wiederbelebung des kulturellen Erbes widmen. Konkret geht es um die Wallfahrtskirche Maria Stock bei Luditz, die verschwundenen Orte Grafenried und Haselbach, die Bergsynagoge in Hartmanitz, die Wallfahrtskirche St. Anna bei Plan, die Passionsspiele in Höritz im Böhmerwald und um die Kirche zur Schmerzhaften Muttergottes in Hammern. Auch das Adalbert-Stifter-Museum in Oberplan und das Kloster der Prämostrantenserinnen in Chotieschau haben Eingang in die Dokumentation gefunden. Der Ort Neumarkt mit seiner renovierten Barockorgel und den historischen Häusern am Marktplatz, für deren Erhalt sich ein örtlicher Verein engagiert, wird ebenso vorgestellt, wie eine langjährige Initiative rund um das Pfarrhaus und die St.-Jakobs-Kirche in Böhmisch-Domaschlag. Diesen Fallbeispielen ist eine soziologische Studie vorangestellt. Sie beschreibt auch für Nicht-Soziologen sehr anschaulich, weshalb das Sudetenland geworden ist, wie es sich heute eben darstellt. Außerdem begründet sie, weshalb die Autoren das Kulturerbe als Entwicklungsfaktor im Grenzgebiet betrachten.

Alle drei Bände sind sowohl in deutscher als auch in tschechischer Sprache verfasst. Die zugehörigen Wanderausstellungen können von Organisationen und Vereinen über die Projektpartner angefragt werden. Auf der Internetseite https://schaetze.cpkp-zc.cz lassen sich sowohl die Bücher als auch Ansichten der Ausstellungstafeln als PDF-Dateien herunterladen.

Es bleibt zu hoffen, dass die Arbeit der vielen Vereine und Initiativen und das Engagement des Zentrums für kommunale Arbeit Westböhmen dazu beitragen, dass noch zahlreiche weitere Schätze geborgen werden.

Der Beitrag ist im Heimatbrief für die Bezirke Plan-Weseritz und Tepl-Petschau, Juni 2019, erschienen.

Neumarkter Bürgerverein rettet Kulturerbe

Wer von Hangendorf (Olešovice) kommend durch Neumarkt (Úterý) fährt, kann ein großformatiges Banner nicht übersehen: „Jsem na spadnutí“ ist darauf zu lesen: „Ich stürze ein“. Die Schriftzeile wird ergänzt durch den Aufruf, die Rettung des Gebäudes zu unterstützen. Es geht um das direkt am historischen Marktplatz gelegene Haus Nr. 69.

Eckhaus in Neumarkt, 2017

Im Juli 2018 druckte der Heimatbrief einen bereits 1951 erschienen Beitrag über die Neumarkterin Anna Turba. Deren Ehemann hatte zu Lebzeiten eben jenes Haus Nr. 69 – das sogenannte „Eckhaus“ – als Gasthaus bewirtschaftet. Wegen des Handwerks, das sich früher darin befand, trug es die Bezeichnung „Beim Seifensieder“. Nach der Vertreibung der deutschböhmischen Neumarkter nannten die tschechischen Neuankömmlinge das Haus „Turbovna“ oder „Na Růžku“; es blieb lange unbewohnt und verfiel. Die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft sowie ein Neumarkter Staatsgut verwendeten das Gebäude als Lagerraum. Später diente das Haus wechselnden Besitzern zu Erholungszwecken. Niemand vermochte die erforderliche Renovierung zu stemmen. Ein zerstörtes Dach, Wasserschäden, die Statik gefährdet – in den letzten Jahren war das Eckhaus mit seiner stolzen Geschichte nur noch eine Ruine, die zwischenzeitlich sogar aus Sicherheitsgründen gesperrt werden musste. Und das mitten in einer ausgewiesenen Denkmalzone.

Im Jahre 2015 kaufte der Neumarkter Bürgerverein Bart (Úterský spolek Bart) das für den Marktplatz so charakteristische Gebäude mit dem Ziel, die Instandsetzung nun endlich voranzutreiben. Seine engagierten Mitglieder wollten aber von Anfang an nicht nur ein Bauwerk erhalten, sondern einen Ort der Begegnung schaffen: ein Gemeindehaus mit Café, Infocenter und einer historischen Ausstellung in einem kleinen Museum. Letzteres soll dem Werdegang des Hauses und der wechselvollen deutsch-tschechischen Geschichte Neumarkts bzw. Úterýs Rechnung tragen.

Úterský spolek Bart

Zuerst galt es aber, das Gebäude wieder herzurichten. Durch ehrenamtliche Arbeit zahlreicher Freiwilliger sowie mithilfe von Spenden und eines Zuschusses der Pilsener Region gelang es in den ersten beiden Jahren, einen vom Einsturz bedrohten Torbogen zu reparieren und das Dach abzudichten. Das bereits erwähnte Banner diente dem Fundraising ebenso wie eine originelle und erfolgreiche Spendenaktion im Internet, die darin bestand, Spendern als Gegenleistung eine Kellerführung, ein T-Shirt mit dem Slogan „Ich stürze ein“ oder ein Buch über den gegenüber dem Eckhaus geborenen Kaspar Karl Reitenberger anzubieten. Auch Einnahmen aus kulturellen Veranstaltungen dienten der Finanzierung. Inzwischen konnten die ersten Sicherungsarbeiten in den umfangreichen Kellergewölben erfolgreich abgeschlossen werden. Es geht also voran. Die ersten Etappen auf dem Weg zu einem lebendigen Gemeindehaus sind geschafft. Aber auch für die weitere Arbeit ist Bart (Úterský spolek Bart) jede Unterstützung willkommen. Die Bankverbindung des Vereins für das Spendenkonto lautet: IBAN CZ03 0300 0000 0002 7050 7717, BIC (SWIFT) CEKOCZPP.

Der heutige Verein Bart wurde im Jahre 2000 als Bürgerinitiative gegründet. Anlass war die Renovierung der historischen Orgel in der Neumarkter Kirche St. Johannes der Täufer. Mithilfe von Spenden, eines Zuschusses des norwegischen Kulturfonds und tatkräftiger Unterstützung aus der Umgebung konnte die im Jahre 1720 von Johann Leopold Burckhardt gebaute Orgel rekonstruiert werden. Seit dem Jahre 2012 findet in jedem Sommer ein Orgelmeisterkurs statt: Eine Woche lang widmen sich Studenten internationaler Musikhochschulen unter Anleitung eines erfahrenen Dozenten der Interpretation barocker Orgelwerke. Den Beginn und den Abschluss markieren jeweils öffentliche Konzerte, die für Neumarkt ein seltenes, kulturelles Juwel darstellen. Als ich vor zwei Jahren eines dieser Konzerte besuchte, war ich doch sehr erstaunt, zwei Musikstudenten kennenzulernen, die an der Berliner Universität der Künste eingeschrieben waren – wenige Gehminuten von meiner Charlottenburger Wohnung entfernt. In diesem Jahr findet der Meisterkurs vom 19. bis zum 24. August unter Leitung von Professor Tobias Lindner (Schola Cantorum Basiliensis) statt; das traditionelle Abschlusskonzert mit den Teilnehmern ist für den 24. August anberaumt. Das Programm kann im Internet (http://mvk.utery.eu/) abgerufen werden.

Kirche St. Johannes der Täufer, Neumarkt, 2017

Bart organisiert in diesem Jahr darüber hinaus noch weitere Veranstaltungen in Neumarkt/Úterý:

4. Mai 2019: Neumarkter Wanderungen (12, 24 oder 30 km)

11. Mai. 2019: Oldtimer Wettbewerb

13. Juli 2019: Jahrmarkt

14. September 2019: B-ART – Familienfest mit Handarbeit und Kunst

Dass der heutige Bürgerverein Bart sich mit der Geschichte Neumarkts auskennt und das deutsche Kulturerbe der Grenzregion zu würdigen weiß, hat er als Bürgerinitiative auch im Jahre 2006 bewiesen. Mit Unterstützung der Gemeindebehörde und der Regionalbehörde legten die Mitglieder einen anderthalb Kilometer langen Lehrpfad an, auf dem man die bedeutendsten Gebäude des Städtchens ansteuern kann. Zehn Hinweistafeln informieren kenntnisreich in Wort und Bild über die frühere Nutzung der Häuser sowie über das tägliche Leben der Neumarkter vor der Vertreibung. Vom Marktplatz geht es unter anderem über das Pfarrhaus, die Kirche und die Brauerei bis hinauf zur Wenzelskapelle.

Aber zurück zu dem alten Haus am Markt. Úterý und das Eckhaus stehen bei Filmschaffenden seit Jahrzenten hoch im Kurs. Entdeckt wurde Neumarkt bereits im Jahre 1950 als Drehort für den Film „Zvony z rákosu“ („Glocken aus Schilf“). „Zdivočelá země“ („Verwildertes Land“), eine Langzeitserie des tschechischen Fernsehens, wurde seit 1997 über viele Jahre hier gedreht. Darin geht es um einem ehemaligen tschechischen Soldat, dessen Wunsch, sich im Grenzgebiet ein neues Leben aufzubauen, der Kommunismus nach dem Februarputsch 1948 zunehmend entgegensteht. Die einfühlsame Titelmusik einiger Staffeln singt übrigens die großartige Marta Kubišová. Viele Bewohner Úterýs haben als Statisten an der Serie mitgewirkt. Auch die in bundesdeutschen Lichtspielhäusern erfolgreich gelaufene deutsch-tschechisch-österreichische Koproduktion „Habermann“ („Habermannův mlýn“) mit Hannah Herzsprung und Ben Becker aus dem Jahre 2010 spielt teilweise in Neumarkt. Der jüngste dort gedrehte Film stammt aus dem vergangenen Jahr. In dem russischen, wenig subtilen Weltkriegsdrama von Aleksey Sidorov geht es um die Insassen eines deutschen Kriegsgefangenenlagers, die in einem halbzerstörten T-34 Panzer fliehen. So heißt auch das Werk: „T-34“. In all diesen Filmen erkennt man das alte Barockhaus; in „T-34“ sogar als Hintergrund für ein dramatisches Panzerduell. Es ist zum Filmstar geworden und Neumarkt zum tschechischen Hollywood.

Die Beliebtheit Úterýs als Drehort unterstreicht die Bedeutung des Denkmalschutzes. Schließlich kommen die Filmschaffenden gerade wegen der intakten Kulisse hierher, die sie sonst erst aufwendig erbauen müssten. Das Eckhaus ist Teil dieser Kulisse, Teil des historischen Erbes Böhmens. Dass der Bürgerverein Bart sich so vehement für seinen Erhalt engagiert, ist den Mitgliedern hoch anzurechnen. Deren Ziele liegen sicher auch den ehemaligen deutschen Bewohnern Neumarkts am Herzen.

Der Beitrag ist im Heimatbrief für die Bezirke Plan-Weseritz und Tepl-Petschau, Mai 2019, in verkürzter Form erschienen.

Die Gräber unserer Vorfahren im Internet

Mehr noch als vom Tod künden Grabsteine vom Leben der Verstorbenen – Geburtstag, Bilder, Berufe, Wohnorte. Auf dem Friedhof wird eben auch, wenn nicht sogar vor allem, an die Zeit vor der Beisetzung gedacht. Beth-Hachajim – Haus des Lebens heißt der Friedhof nicht umsonst im Hebräischen. Grabsteine erzählen die Geschichte der kleinen Leute und der löblichen Herrschaften, die Geschichte ihres Landes, ihrer Kultur und ihres Glaubens. Diese Erzählungen sind aber nur für kurze Zeit verfügbar. In der Bundesrepublik Deutschland ist das Nutzungsrecht an einer Grabstätte oft auf eine Mindestruhezeit von 15 bis 20 Jahren beschränkt. Auch das tschechische Friedhofsrecht sieht vor, dass Gräber, die nicht mehr gepflegt werden, unter bestimmten Voraussetzungen eingeebnet werden können. Dass Grabsteine aber auch ohne solche Eingriffe mit den Jahren immer weniger erzählen können, zeigen besonders die alten, nicht mehr genutzten Friedhöfe. Dort zerbrechen Grabplatten, versinken die Steine langsam im Boden, verblassen ihre Inschriften und holt sich die Natur in Windeseile zurück, was ihr genommen wurde. Vor dem Efeu sind alle Toten gleich.

Zugegeben, es ist keine romantische Vorstellung, aber um die Erzählungen über unsere verstorbenen Vorfahren zu bewahren, bietet sich das Internet geradezu an. Das Grabsteinprojekt des Vereins für Computergenealogie beispielsweise:

Auf dieser Seite listet der Verein Friedhöfe auf, deren Grabsteine jeweils mit Bildern und Daten erfasst sind. Jeder kann diese Datenbank kostenlos nutzen; sie lässt sich nach Orten und Nachnamen durchsuchen. Mit etwas Glück finden sich so ganz schnell auch Fotos von Grabsteinen der eigenen Vorfahren. Für Ahnenforscher, die den Aufwand und die Kosten einer Reise oder eines Archivbesuchs scheuen, steht dadurch eine wunderbare Nebenquelle zur Verfügung. Zudem wird das Andenken an die Verstorbenen auch nach dem Abräumen der Gräber erleichtert und Kulturgut, wenn auch nur als Fotografie, für die nachfolgenden Generationen bewahrt.

Das öffentliche, nicht kommerzielle Grabstein-Projekt wurde 2007 von einer kleinen Gruppe Ahnen- und Familienforscher ins Leben gerufen; es lebt von ehrenamtlicher Mitarbeit. Die Datenbank ist inzwischen auf eine beachtliche Größe angewachsen. Auch wenn der Schwerpunkt in der Bundesrepublik Deutschland liegt, sind darüber hinaus fast einhundert Friedhöfe in der Tschechischen Republik erfasst – vorwiegend historische Friedhöfe ehemals deutsch besiedelter Ortschaften. Aus Weseritz und Umgebung waren bislang keine Aufnahmen zu finden. Das wollte ich ändern.

Im Frühjahr 2018 verbrachte ich eine Woche in den Orten meiner böhmischen Vorfahren. Mitgenommen habe ich natürlich meine Kamera und zusätzlich noch Arbeitshandschuhe und eine Heckenschere, um zugewachsene Steine vom Efeu zu befreien sowie eine Wurzelbürste und einen robusten Lappen zum Freilegen verwitterter Inschriften. Für jeden Tag nahm ich mir einen Gottesacker vor: den Stadtfriedhof von Weseritz (Bezdružice) sowie den in der Nähe von Rössin (Řešín) befindlichen jüdischen Friedhof, außerdem die Friedhöfe in Tschelief (Čeliv), Witschin (Vidžín), Neumarkt (Úterý) und Böhmisch-Domaschlag (Domaslav). Die Bilder jener Grabsteine, die noch eine lesbare Inschrift aufweisen, sind inzwischen auf den Seiten des Grabstein-Projekts und zusätzlich in voller Auflösung auch auf meiner Homepage (https://sven-mueller.info/) zu finden.

Die fotografische Erfassung und die dafür teilweise erforderlichen Arbeiten – die Säuberung von Inschriften oder das Zurückschneiden der Vegetation – waren einerseits doch ein wenig aufwendiger, als ich dachte. Andererseits habe ich dadurch die Friedhöfe, die ich von früheren Besuchen bereits kannte, auf eine ganz andere, viel intensivere Weise erlebt. Und mir fiel auf, wie sehr sie sich voneinander unterscheiden.

Richtig alt ist der Weseritzer Stadtfriedhof eigentlich nicht. Er liegt am ehemaligen Langen Weg (K Lesu) am Ortsrand und wird von der Stadt Bezdružice heute noch genutzt. Der erste, um die Kirche gelegene Gottesacker war bereits 1828 aufgelassen und der spätere Friedhof 1931 mit dem Bau des Kriegerdenkmals aufgegeben worden. Viele Grabsteine mit deutscher Inschrift finden sich nicht mehr auf dem „neuen“ Friedhof, gerade einmal sieben fotografiere ich. Einige der älteren Grabsteine tragen tschechischsprachige Gedenkplatten, der Rest ist ohnehin jüngeren Datums. Dass die übrigen alten Steine nicht aus Platzgründen weichen mussten, wird deutlich, wenn man den hinteren, überwachsenen Bereich des Friedhofs besucht. An zwei Stellen türmen sich zerstörte Grabsteine, die offenbar nach der Vertreibung der deutschböhmischen Weseritzer an der Friedhofsmauer aufgehäuft wurden. Am zentralen Friedhofskreuz wurde im Jahre 2002 anlässlich des Florianifests eine aus Spenden finanzierte Gedächtnistafel angebracht: „Zum Gedenken an die ehemaligen deutschen Bewohner der Pfarrei Weseritz, die auf diesem Friedhof bis zum Jahre 1946 ihre ewige Ruhe fanden. Errichtet im Jahre 2002 von den in aller Welt verstreuten Nachkommen.“ Beeindruckend ist die gut erhaltene Skulptur einer weinenden Frau, die unweit des Kreuzes steht. Sie ziert das Grab der Antonia Fritsch, die hier im Jahre 1914 zur Ruhe gelegt wurde. Mein Urgroßvater, Josef Holdschick, war der Letzte aus meiner Familie, der hier beigesetzt wurde. Er starb im Alter von 87 Jahren, drei Wochen bevor seine Nachkommen in den Güterzug gen Westen gezwungen wurden. Sein Grab existiert nicht mehr.

Friedhof in Weseritz

Die letzte Bestattung auf dem jüdischen Friedhof in Weseritz fand im Jahre 1935 statt. Das jüdische Leben in der Stadt endete mit der Annexion des Sudetenlandes durch das Deutsche Reich. Viele Juden flüchteten vor den Nationalsozialisten in den noch freien Teil der Tschechoslowakei. Wer sich nicht rechtzeitig in Sicherheit brachte, wurde bald aber auch dort gnadenlos verfolgt, in Vernichtungslager deportiert und ermordet. Das traurige Ende, aber auch die Anfänge und die guten Jahre der jüdischen Gemeinde haben Ingild Janda-Busl und Franz Busl in dem Jahre 2006 erschienen Buch „Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Weseritz/Bezdružice“ sehr detailliert dokumentiert. Es heißt darin, dass ein Rössiner während der Zeit, in der die Schändung jüdischer Friedhöfe an der Tagesordnung war, Grabsteine des Weseritzer Judenfriedhofs für den Mauerbau geholt und sich dann aus Gewissensbissen erhängt haben soll. Lange lag der Friedhof – oder was davon übrig geblieben war – schwer zugänglich in einem Wald bei Rössin verborgen. Nur oben vom Schlossberg aus ließ sich die Lage des Friedhofs gut erkennen – an den im Vergleich zur Umgebung unterschiedlichen Baumarten. Die Umfriedung war bereits eingefallen und viele Grabsteine umgeworfen oder zerstört, als die Aktion Sühnezeichen-Friedensdienste dem Friedhof ein Stück seiner Würde zurückgab. Nachdem die Stadtverwaltung die aufgrund eines schweren Sturms eingestürzten Bäume abgeräumt hatte, machten sich in den Jahren 2010 und 2011 die Teilnehmer des internationalen Freiwilligendienstes in vier Ü40-Sommerlager daran, die restlichen Pappeln zu fällen, Grabsteine aus vielen Einzelteilen zusammenzusetzen, wieder aufzurichten und zu reinigen. Auch die Fundamente der Leichenhalle haben sie gut sichtbar freigelegt. Dutzende der für den Mauerbau verwendeten Steine und Fragmente waren wenige Jahre zuvor aus Rössin zurückgebracht worden und lehnen nun an der Friedhofsmauer. Haus des Lebens.

Jüdischer Friedhof in Weseritz

Die Kapelle direkt gegenüber dem Neumarkter Gemeindefriedhof ist dem Heiligen Wenzel geweiht. Über ihrem Portal befinden sich das Wappen und die Initialen des Abtes von Tepl. Zumindest von außen wirkt sie ordentlich. An einer gut sichtbaren, zentralen Stelle haben ehemalige Neumarkter im Jahre 1994, einhundert Jahre nach Errichtung des Friedhofs, eine zweisprachige Gedenktafel eingeweiht: „1894 – 1994 Wir gedenken unserer Toten. Herr bei Dir ist Heimat. Gerichtet von den in Deutschland lebenden Nachkommen.“ Sie ziert den Sockel des restaurierten, großen Friedhofskreuzes. Sieben Jahre später wurde an der hinteren Friedhofsmauer, dort, wo heute die meisten alten Grabsteine zu finden sind, eine deutschsprachige Gedenktafel errichtet: „Zum Gedenken an die verstorbenen ehemaligen Bewohner des Kirchsprengels Neumarkt“. Manche Grabsteine sind erstaunlich gut erhalten und wirken gepflegt, andere lehnen vergessen und verlassen an der Friedhofsmauer. Als ich Anfang Mai meine Fotos schieße, kriecht aus dem Wald ein kühles Lüftchen herauf, die Abendsonne zaubert aber bereits eine Vorahnung des langen Sommers auf die warme, von dichtem Moos bewachsene Mauer. Ich finde noch ein verwittertes Holdschick-Grab, weiß aber nicht, ob und in welcher Weise die dort Beigesetzten mit dem Weseritzer Zweig der Familie verwandt waren.

Friedhof in Neumarkt

Das Dörfchen Witschin gehört heute zur Stadt Neumarkt. Unten am Neumarkter Bach standen die Holdschick-Häuseln und die Holdschicken-Mühle. Mein Urahn, Urban Holdschick, soll dort am 9. Februar 1654 gestorben sein. Die Mühle, deren noch sichtbaren Mauerreste im Sommer von Brennnesseln überwachsen sind, war möglicherweise der Ursprung der Holdschicks im Weseritzer Ländchen. Grund genug, den Friedhof zu besuchen, obwohl mir natürlich klar ist, dass derart alte Gräber dort nicht mehr zu finden sein werden. Das eiserne Friedhofstor steht offen, auf der anderen Straßenseite bereiten die Betreiber einer Biker-Kneipe den Garten für den Sommer vor. Noch aber sind keine Motorräder zu sehen und auch nicht zu hören. Es ist still auf dem Friedhof, der seit der Vertreibung nicht mehr belegt wird. Bei meinem ersten Besuch vor fünfzehn Jahren wucherten noch Rainfarn, Himbeerbüsche und Weideröschen. Die dichte Vegetation machte damals ein Durchkommen fast unmöglich. Verwahrlost war kein Ausdruck, aber Verfall und Nostalgie liegen manchmal nahe beieinander. Inzwischen ist der Friedhof gerodet und wieder gut begehbar. Seine Patina hat er sich freilich bewahrt. Narzissen blühen zwischen den notdürftig wieder aufgestellten Grabsteinen. Die meisten Grabplatten sind zerborsten und die Schrift auf den noch intakten Steinen ist oft nicht mehr lesbar. Befremdlich wirkt die kleine Mittelallee aus viel zu eng gepflanzten und inzwischen übergroßen Thujen, an deren Ende das Friedhofskreuz steht. Moos kriecht in die Ritzen der umgefallenen Steine. Auch hier finde ich noch eine Erinnerung an verstorbene Holdschicks.

Friedhof in Witschin

Wer mit dem Auto unterwegs ist, muss aufpassen, am Kokaschitzer Friedhof in Tschelief nicht vorbeizufahren. Er liegt unmittelbar am Weg nach Kokaschitz (Kokašice), ist sehr aufgeräumt und beherbergt nur noch wenige alte Grabsteine mit deutscher Inschrift. Auch hier ist das zentrale Friedhofskreuz noch erhalten. An der Mauer zur Straße hin befindet sich ein Gedenkstein mit Kruzifix, der an eine Grabschändung auf dem nahe gelegenen Schwanberg erinnert. Die Übersetzung der Inschrift lautet in etwa: „Hier liegen die Überreste derer von Schwanberg, die 1964 aus den verwüsteten Gräbern auf der Burg Schwanberg überführt wurden. Sie mögen ruhen in Frieden.“

Friedhof in Tschelief

Recht gut erhalten ist der Friedhof in Böhmisch-Domaschlag. Zwar liegen die Erhaltungs- und Pflegearbeiten, die der Verein o. s. Domaslav in Kooperation mit einem Sommerlager der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e. V. initiiert hat, bereits fast zehn Jahre zurück. Doch hat sich in der Zwischenzeit auch die Gemeinde um den Friedhof gekümmert und beispielsweise das verfallene Leichenhaus wieder aufgebaut. Die Fotos von den Aufräumarbeiten auf der Homepage des Vereins o. s. Domaslav – der sich seit 2006 engagiert um die Renovierung der Jakobskirche und des Pfarrhauses bemüht – lassen erahnen, welch dichtes Gestrüpp sich zuvor zwischen den Grabsteinen ausgebreitet hatte. Auf dem zentralen Gefallenendenkmal ist die Inschrift nachgezeichnet worden und erinnert im hundertsten Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs an die Gefallenen aus Böhmisch Domaschlag, Millikau (Milkov), Saduba (Zádub) und Lohm (Lomy). Interessant ist, dass die Soldaten alle an der Ostfront, auf dem Balkan, in Italien oder in Ungarn starben – in Regionen also, die im aktuellen Weltkriegsgedenken zumindest in der Bundesrepublik Deutschland kaum wahrgenommen werden.

Friedhof in Böhmisch Domaschlag

Der Aufenthalt auf den Friedhöfen hat mich den Orten und der Region noch einmal näher gebracht. Im nächsten Jahr möchte ich weitere Friedhöfe im Weseritzer Ländchen oder in der Umgebung besuchen und dort wieder für das Grabsteinprojekt fotografieren. Schön wäre es, wenn mein Artikel einige Leserinnen und Leser motivieren könnte, in den eigenen Herkunftsorten das Gleiche zu tun. Im Internetangebot des Grabstein-Projekts steht eine ausführliche Anleitung bereit, was beim Fotografieren zu beachten ist und in welcher Weise die Bilder auf die Plattform gelangen. Wer möchte, kann mich gerne anschreiben, ich freue mich über Rückmeldungen.

Der Beitrag ist im Heimatbrief für die Bezirke Plan-Weseritz und Tepl-Petschau, Februar 2019, erschienen.