Meine ersten Fahrten in die Heimat meiner Großeltern unternahm ich in den neunziger Jahren. Obwohl ich damals natürlich längst in Farbe fotografiert habe, versprühen meine Aufnahmen den Charme verstaubter Schwarz-Weiß-Bilder. Ich hatte das Gefühl, tiefe Traurigkeit hätte sich in dieser doch so schönen Grenzlandschaft eingenistet. Die meisten Bewohner schienen sich nicht sonderlich für ihre Umgebung zu interessieren. Dass es auch damals schon andere Beispiele gab, war meiner Aufmerksamkeit entgangen. Inzwischen ist dies aber nicht mehr zu übersehen. Anders als in vielen Organisationen der Vertriebenen in Deutschland stellen sich in Böhmen vor allem junge Menschen der Teilnahmslosigkeit entgegen. Zahlreiche örtliche Initiativen engagieren sich inzwischen nicht zuletzt im Egerland für eine Region, die längst auch ihre Heimat ist. Ein Beispiel ist das Zentrum für kommunale Arbeit Westböhmen.
In den letzten Jahren hat das Zentrum für kommunale Arbeit Westböhmen drei umfangreiche Dokumentationen zum westböhmischen Grenzgebiet herausgegeben: „Lebendes Gedächtnis der Sudeten“ (2011), „Geschichten aus dem Sudetenland“ (2013) und „Wiederentdeckte Schätze im Sudetenland“ (2018). Die Bände entstanden in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule im Landkreis Cham e. V. Alle drei Publikationen bieten anschauliche Einblicke in die Geschichte und Gegenwart Westböhmens.
Das „Lebende Gedächtnis der Sudeten“ stellt Interviews mit Zeitzeugen in den Mittelpunkt. Die Gespräche wurden mit ursprünglichen deutschen Bewohnern Westböhmens, Zeitzeugen aus rein deutscher Umgebung sowie mit solchen aus gemischt tschechisch-deutschen Familien durchgeführt. Zudem enthält der Band Erlebnisberichte von Menschen, deren Umfeld rein tschechisch war. Der Leser begegnet untergegangen Orten, dem Bergbau im Grenzgebiet und der Neubesiedlung des Sudetenlands durch die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen. Die Zeitzeugen berichten über ihre grenzübergreifenden Kontakte, die den Kalten Krieg überdauerten, und über ihr Engagement für die Sanierung von Kulturdenkmalen. Der regionale Fokus des Bandes liegt im Umkreis von Tachau, Mies, Staab, Bischofteinitz sowie im Oberpfälzer Wald; sein Untertitel lautet: „Lebensgeschichten der Zeitzeugen aus Westböhmen“.
Gewissermaßen eine Fortsetzung im Sinne dieses Untertitels sind die „Geschichten aus dem Sudetenland“. Wiederum führten die Autoren Interviews mit Vertriebenen, Verbliebenen und Neusiedlern, unter anderem mit sogenannten Reimmigranten, deren Familien nach dem Zweiten Weltkrieg dem Ruf der damaligen tschechoslowakischen Regierung folgten, aus der Ukraine oder Polen nach Westböhmen zu kommen. Die Berichte dieser Zeitzeugen verdeutlichen, vor welche Herausforderungen die großen geschichtlichen Ereignisse sie alle stellten. An die Interviews schließt sich ein Kapitel an, das die gesammelten Geschichten in den historischen Kontext seit dem Zerfall der Donaumonarchie einbindet. Die Autoren verstehen die Publikation als Beitrag zur Wiederentdeckung der Häuser, Gemeinden und Landschaften, die über viele Generationen von Böhmen beiderlei Zunge errichtet wurden. Ihre Hoffnung ist es, das Interesse der Menschen an Geschichte und Gegenwart der Region zu steigern und ein neues Band zwischen ihnen und dem Ort, an dem sie leben, zu knüpfen.
Eine ganz andere Perspektive nimmt der jüngste Band „Wiederentdeckte Schätze im Sudetenland“ ein. Hier geht es nicht primär um individuelle Erinnerungen, sondern vielmehr um einzelne Kulturdenkmale und Traditionen Westböhmens. Die Projektpartner haben sechs solcher Sehenswürdigkeiten und Traditionen dokumentiert, die in den letzten Jahren wieder zu neuem Leben gelangt sind. Ihnen ist es gelungen, auf beiden Seiten der Grenze Menschen zu finden, die sich der Wiederbelebung des kulturellen Erbes widmen. Konkret geht es um die Wallfahrtskirche Maria Stock bei Luditz, die verschwundenen Orte Grafenried und Haselbach, die Bergsynagoge in Hartmanitz, die Wallfahrtskirche St. Anna bei Plan, die Passionsspiele in Höritz im Böhmerwald und um die Kirche zur Schmerzhaften Muttergottes in Hammern. Auch das Adalbert-Stifter-Museum in Oberplan und das Kloster der Prämostrantenserinnen in Chotieschau haben Eingang in die Dokumentation gefunden. Der Ort Neumarkt mit seiner renovierten Barockorgel und den historischen Häusern am Marktplatz, für deren Erhalt sich ein örtlicher Verein engagiert, wird ebenso vorgestellt, wie eine langjährige Initiative rund um das Pfarrhaus und die St.-Jakobs-Kirche in Böhmisch-Domaschlag. Diesen Fallbeispielen ist eine soziologische Studie vorangestellt. Sie beschreibt auch für Nicht-Soziologen sehr anschaulich, weshalb das Sudetenland geworden ist, wie es sich heute eben darstellt. Außerdem begründet sie, weshalb die Autoren das Kulturerbe als Entwicklungsfaktor im Grenzgebiet betrachten.
Alle drei Bände sind sowohl in deutscher als auch in tschechischer Sprache verfasst. Die zugehörigen Wanderausstellungen können von Organisationen und Vereinen über die Projektpartner angefragt werden. Auf der Internetseite https://schaetze.cpkp-zc.cz lassen sich sowohl die Bücher als auch Ansichten der Ausstellungstafeln als PDF-Dateien herunterladen.
Es bleibt zu hoffen, dass die Arbeit der vielen Vereine und Initiativen und das Engagement des Zentrums für kommunale Arbeit Westböhmen dazu beitragen, dass noch zahlreiche weitere Schätze geborgen werden.
Der Beitrag ist im Heimatbrief für die Bezirke Plan-Weseritz und Tepl-Petschau, Juni 2019, erschienen.