Sankt-Anna-Fest 2024: Feuerrede

Ich solle doch einfach mal meine Sicht der Dinge ausbreiten, meinte Regine, als sie mich fragte, ob ich die Feuerrede halten würde. Darüber, was das Sankt-Anna-Fest, die Kontakte mit den Plan-Weseritzern und auch mit den Menschen in Tschechien für mich bedeuten. Was das Egerland für mich bedeutet. So sehr ich mich über die Einladung gefreut habe, so ratlos war ich. Die Fragen musste ich mir erst einmal selbst stellen. Meine Antworten fallen deshalb recht persönlich aus – es geht nicht anders.

Ein Jahr vor meinem Abitur, der kalte Krieg neigte sich gerade seinem Ende zu, unternahmen wir eine Klassenfahrt nach Prag. Wir fuhren mit dem Zug von Frankfurt am Main. Damals wusste ich nichts über meine Familiengeschichte – mit 18 Jahren hatte ich andere Dinge im Kopf. Von Weseritz, dem Geburtsort meiner Mutter, kannte ich nur den Namen. Wo er liegt, war mir unbekannt. Auf der ganzen Zugfahrt von Frankfurt über Eger bis Prag habe ich ein einziges Foto geschossen. Es zeigt ein unscheinbares Gebäude mit einer verwitterten Kirche dahinter. Ich habe das Bild ins Album geklebt, mehr ist damals nicht passiert.

Es gibt natürlich einen Ort, an dem ich aufgewachsen bin, andere Orte, an denen ich länger gelebt habe und einen Ort, an dem ich jetzt schon ziemlich lange lebe. Emotionen verbinde ich mit allen diesen Orten nicht. Vom Egerland war zu Hause nie die Rede. Meine Mutter war bei der Vertreibung vier Jahre alt; sie hat wohl früh in ihrem Leben entschieden, nicht in der Vergangenheit leben zu wollen. Zu Treffen wie diesem sind wir nie gefahren. Aufgewachsen bin ich in einem liebevollen Pragmatismus – es zählten das Hier und Jetzt. Für andere Dinge war auch gar keine Zeit. Daran war nichts verkehrt, aber Herkunft und Heimat waren eben kein Thema.

Höhenfeuer auf dem Sankt-Anna-Fest in Mähring 2024

Irgendwann stellte ich Fragen und begann mit der Familienforschung. Anders als die meisten hier musste ich mir meine Herkunft sozusagen selbst erarbeiten. So kam ich zum Heimatkreis Plan-Weseritz und auch zum Sankt-Anna-Fest. Damals haben mich Maria Mooshammer, Gretl Nedoma, der Abt Johannes Zeschick und andere Weseritzer großartig unterstützt. Ich war froh, Menschen zu treffen, die noch aus der alten Heimat berichten konnten. Die Geschichte des Sankt-Anna-Festes, die ich selbst nicht erlebt habe, hat mich sehr beeindruckt: der Aufbau einer Alternative zur Wallfahrtskirche in der alten Heimat, die unzähligen Teilnehmer in früheren Jahren, der Zusammenhalt mit Menschen, die doch eher zufällig aus denselben Orten stammten.

Das Sankt-Anna-Fest und vor allem der Heimatkreis als Verein blieben mir damals jedoch seltsam fremd. Intensiv habe ich aber zur gleichen Zeit begonnen, die Orte meiner Vorfahren aufzusuchen. Meine ersten Reisen ins Egerland begannen also mit der Vergangenheit meiner Familie, fanden aber in der tschechischen Gegenwart statt. Diese Kombination habe ich mir bewahrt. Das Weseritzer Ländchen besuche ich inzwischen regelmäßig; es ist mir ans Herz gewachsen. Als einmal wieder eine Reise bevorstand, fragte ein Kollege auf der Arbeit: „Fahren Sie also wieder in Ihre Seelenheimat?“ Wie auch immer das gemeint war – den Begriff habe ich mir zu eigen gemacht. Er beschreibt sehr genau, was ich empfinde.

In Prag reserviere ich meistens einen Mietwagen, um vor Ort mobil zu sein. Ich erinnere mich, dass der Angestellte des Autovermieters einmal mit Unverständnis reagierte, als ich sagte, wohin ich fahren möchte. Nach Sibirien? Was wollen Sie denn dort? Das ehemalige Sudetenland war den Tschechen wohl ziemlich suspekt. Ich persönlich hatte durchaus auch den Eindruck, dort herrschten Traurigkeit und Tristesse.

Diese Zeiten sind zum Glück vorbei. Je öfter ich ins Egerland reise, umso mehr Menschen lerne ich kennen. Mir begegnet dort längst eine positive Grundhaltung. Viele der heutigen Einwohner interessieren sich für die deutsche Vergangenheit ihrer Orte. Neugierde ist natürlich auch dabei – was wären Versöhnung und Verständigung ohne Neugierde? Ich will nur ein paar Beispiele für Initiativen nennen, die sich daraus entwickeln:

  • Das Anknüpfen der Städte und Gemeinden an ehemals deutsche Feste – das Florianifest in Weseritz, das Jakobifest in Bruck am Hammer oder die Wiederbelebung des Butterbrotfestes in Zahorsch. Die ehemaligen Einwohner und ihre Nachfahren sind dort immer herzlich willkommen.
  • Ein kleiner Weseritzer Verein, der ein altes Spritzenhaus in Harlosee zu einem Dorfmuseum umgebaut und nach dem deutschen Ortsnamen benannt hat.
  • Die Pflege von Friedhöfen – gerade erst hat die Stadt Weseritz Grabsteine aus einer Schutthalde geborgen und als Lapidarium aufgestellt.
  • Das jährliche Treffen im Pfarrgarten von Böhmisch-Domaschlag und die rührenden Bemühungen des dortigen Vereins, Pfarrhaus und Kirche zu renovieren.
  • Die Nacht der Kirchen, zu der in jedem Frühjahr die oft ungenutzten Gotteshäuser der Region zu neuem Leben erweckt werden.
  • Die Renovierung des Eckhauses der Familie Turba in Neumarkt unter der Regie eines sehr engagierten Bürgervereins.
  • Die vielen Initiativen zur Rettung kleiner Denkmäler, allen voran der Verein aus Waschagrün, der uns letztes Jahr im Festzelt die Wiedererrichtung von Feldkreuzen und einer verschwundenen Kapelle vorgestellt hat.
  • Die Literatur und Heimatliteratur, die in den letzten Jahren entstanden ist, sei es in Neumarkt, Girsch oder Plan.
  • Oder auch die Stolpersteine, die seit wenigen Jahren auf dem Planer Marktplatz zu sehen sind. Sie erinnern an die von den Nationalsozialisten ermordeten jüdischen Planerinnen und Planer – auch ihre Muttersprache war deutsch.

Während die Vertriebenen in Deutschland ihre Geschichte in Heimatstuben, Museen und Archiven konservieren, gehen die meisten Tschechen an das Thema ganz anders heran. Sie stellen andere Fragen, nehmen eine andere Perspektive ein. Schließlich müssen sie sich diese Heimat, deren Vergangenheit sie kaum kennen, erst erarbeiten. Ihnen geht es eigentlich ähnlich wie mir. Vielleicht begeistert mich ihr Engagement auch deshalb so sehr. Aber wo sonst lässt sich Tradition besser leben und bewahren, als dort, wo sie entstanden ist? Dass sie sich auf diese Weise fortentwickelt und verändert, zeigt doch nur, dass sie lebt.

Auf dem Sudetendeutschen Tag hört man inzwischen viel Tschechisch. Hier an der Grenze gehören europäischer Austausch und die Begegnung zwischen Deutschen und Tschechen zum gelebten Alltag. Wer wüsste das besser als die Menschen in Mähring und Tirschenreuth? Auch für das Sankt-Anna-Fest würde ich mir mehr davon wünschen. Wie sonst soll es seine Bedeutung behalten und sich gleichzeitig neuen Generationen öffnen? Oder ist der Zug dafür etwa längst abgefahren?

Meine Distanz zum Sankt-Anna-Fest und zum Heimatkreis ist inzwischen geschwunden. Vieles hat sich geändert. Sie wissen, ich trage seit einigen Jahren die Prozessionsfahne vor dem Festgottesdienst. Dem Verein bin ich heuer nach langem Zögern endlich beigetreten. Ich tanze also auf zwei Hochzeiten, auf einer tschechischen und einer deutschen. Damit fühle ich mich ausgesprochen wohl. Beide Seiten gehören für mich dazu – zu meiner selbst geschaffenen Heimat.Viele Jahre nach unserer Klassenfahrt bin ich übrigens wieder auf die alte Aufnahme im Fotoalbum gestoßen und habe festgestellt: Die verwitterte Kirche, das war die Sankt-Anna-Kirche in Plan. Ausgerechnet!

Insgeheim hege ich die Hoffnung, einmal zu erleben, wovon beim Höhenfeuer jedes Jahr die Rede ist. Kein Sankt-Anna-Fest vergeht, ohne dass irgendjemand berichtet, wie das Mähringer Höhenfeuer früher einmal mit kleinen Feuern auf böhmischer Seite erwidert worden sei. Wer diese Feuer wohl entzündet haben mag? Das Ganze wird sich wahrscheinlich nicht wiederholen. Falls aber doch, bin ich sicher, dass die Flammen auf der böhmischen Seite zumindest nicht kleiner sein werden als hier in Mähring.

Gehalten am 28. Juli 2024 zum Höhenfeuer auf dem Sankt-Anna-Fest in Mähring. Der Redetext ist im Heimatbrief für die Bezirke Plan-Weseritz und Tepl-Petschau, September/Oktober 2024, erschienen.

Bistum Regensburg: „Mähring begeht Anna-Wallfahrt und Heimatfest der Vertriebenen – Die Fremde zur Heimat werden lassen“ (Ausführlicher Bericht von Peter Pirner mit vielen Bildern)