Johannes Urzidil

Der Wundarzt Wenzl Hainl, mein Alturgroßvater, hatte eine Tochter Barbara („Dokter-Bärbel“), die 1845 in Weseritz den jungen Lehrer Johann Urzidil heiratete. Anton Wanka hat 1984 auf drei Seiten im Heimatbrief Plan-Weseritz die Geschichte der „Dokter-Bärbel“ wiedergegeben. Deren Enkel, der Prager Schriftsteller Johannes Urzidil beschreibt den unglaublichen Werdegang der Rippe seiner Großmutter Barbara – meiner Altgroßtante. Die Erzählung Urzidils habe ich hier so kurz es ging zusammengefasst:

Die Dokter-Bärbel aus Weseritz

Die Großmutter und Urgroßmutter des Schriftstellers Johannes Urzidil waren einmal in Weseritz geborene Mädchen. Für den Schriftsteller war das Anlaß, nachzuforschen, Spuren zu suchen und darüber zu schreiben. Weil in seinen Geschichten eine Reihe Aufzeichnungen über das Leben und Treiben vor zirka 200 Jahren in unserer Heimatstadt enthalten sind, habe ich es für angezeigt gefunden, diese in kurzer Form hier wiederzugeben, denn sie sagen uns doch so manches aus einer längst vergangenen Zeit.

Im Jahre 1760 wurde im Dorfe Weschekun bei Haid ein Bauernknabe geboren, diesen Buben ließ Fürst Löwenstein, damals wohnhaft in Haid, auf seine Kosten studieren, er sollte Pfarrer werden. Doch als dieser Junge, WenzI HainI, nach seinem Studium aus Prag heimkehrte, war er kein Pfarrer, sondern ein mit einem, pergamentenen Doktor- und Geburtshelferdiplom ausgestatteter Arzt. Der Fürst hat ihm aber diese Täuschung verziehen, denn er konnte ja einen Arzt genau so gut brauchen wie einen Pfarrer. Weil der Chirurgus Steinhauser auf der Herrschaft Weseritz eben gestorben war, bestellte Durchlaucht den WenzI HainI mit dessen Posten und der ausdrücklichen Aufgabe, der seiner Hilfe Bedürftigen getreu und sorgsam nachzukommen. Seine Kenntnisse mit Erfahrung je länger je mehr zu erweitern.

Er erteilte ihm den sogenannten Spanzettel, auf dem verzeichnet stand, was Dr. Hainl für seine Tätigkeit alljährlich zu erhalten habe, nämlich:

  1. aus der untertänigen Kontributionskasse 90 Gulden und 39¾ Kreuzer;
  2. von der Fürstlichkeit 10 Gulden in bar, 6 Metzen Korn, 1 Metzen Weizen, 8 Klafter Holz, den Genuß eines Gemüsegartens, 2 Beetfeld Kraut und Erdäpfel bei freien Logies;
  3. die Herrschaft sorgt für Fourage und Streustroh sowie ein Reitpferd.

Auf diesem Dokument waren auch seine Pflichten spezifiziert, nämlich:

  1. wenigstens alle vier Wochen und nach Beschaffenheit der Zeiten und Krankheiten, auch öfters die Herrschaft durchzureisen und den Hilfsbedürftigen mit Rat und Tat an Hand zu gehen;
  2. jeden Untertan der Herrschaft unentgeltlich Hilfe mit Bruch- und Laxiermitteln, Aderlaß und Schröpfen zu leisten, die Ritte zu denselben ohne weitere Bezahlung auf jedesmalige Erfordernis zu machen;
  3. seinen Arzneivorrat immer gehörig und mit unverdorbener Ware zu unterhalten;
  4. die Totenbeschau gehörig vorzunehmen und zu protokollieren.

So ein junger Doktor braucht natürlich auch eine Frau. Er holte sie sich aus einem Weseritzer Bürgerhaus, sie war die Tochter des Gold- und Silberschmiedes Winterstein, Nr. 18. Bei Winterstein befand sich einige Generationen vor uns nicht eine Schlosserei, sondern eine Gold- und Silberschmiede, in der sakrale Gegenstände für Kirchen und Klöster hergestellt wurden.

Der Goldschmied Winterstein, ein wohlhabender Bürger, konnte dem jungen Arzt gut unter die Arme greifen und dem jungen Paar einen standesgemäßen Hausstand schaffen. Der Doktorfamilie entsproß ein Mädchen, sie wurde Barbara getauft und Bärbel gerufen. Bärbel war ein lebhaftes ja wildes Mädchen, mehr Bub als Mädel. Einmal soll sie den Stallburschen ihres Vaters, weil er ihr nicht in den Sattel helfen wollte, mit der Reitpeitsche traktiert haben. Unserer Bärbel wird es an Verehrern sicher nicht gemangelt haben, aber zum Heiraten war keiner dabei.

Als im Jahre 1842 der Vater im 82sten Lebensjahr gestorben war und sie dem 30er immer näher kam, wurde es Zeit zuzugreifen. In dieser Zeit, war gerade ein junger Lehrer namens Johann Urzidil in Weseritz tätig; er mußte es werden. An einem von der Mutter arrangierten Abend, bei Melniker Wein und viel Likör, wurde der Ehevertrag, der schon fertig aus der Schublade gezogen wurde, vorgelegt. Dieser Vertrag wurde von beiden unterschrieben und auch noch von zwei Weseritzer Bürgern, Kaufmann Josef Frank und Apotheker Franz Puberl, als Zeugen beglaubigt. Am 28. Oktober 1845 wurde Hochzeit gefeiert.

Der Lehrer Urzidil wurde alsbald in das kleine Walddorf Schippin versetzt. Der Patronatsherr Fürst Löwenstein, hat über seine Beamten verfügt, wie es ihm gefiel. Urzidil soll ein guter Pädagoge, Musiker und Organist gewesen sein, Lehrbücher für seinen Gebrauch hat er selbst verfaßt, so kam es, daß er neben Weseritz und Schippin auch noch in vielen anderen Schulorten tätig war. Am längsten aber war er in Schippin. Schippin ist sicher ein herrlicher Wohnplatz, ringsum Wald und Wiesen, in der Mitte eines, großen Tierparks, aber für Bärbel war es ein Gefängnis. Sie war jung, lebenslustig und wollte immer Menschen um sich haben. Ihr Gemahl war ausgelastet, ja überlastet mit Schule, Kirche, Musikstunden und war einmal ein bisschen Zeit dazwischen, so mußte er mit Pfarrer, Förster und Thutaken-Müller ein Kartenspiel im nahen Gasthaus machen.

So war Bärbel gezwungen, sich auf andere Art die Zeit zu vertreiben. Sehr oft war sie in Weseritz, da hatte sie ihre Freundinnen, Frau Frank und Frau Puberl. Dort machte sie ihre Einkäufe, auch die Kleider ließ sie sich dort nähen.

Bärbel hat in dieser Schippiner Zeit fünf Kinder geboren, zwei sind bald gestorben, drei sind groß geworden. Die beiden älteren Kinder waren Mädchen, Resi heiratete einen Sattler aus Turnau, die Loise einen Gutspächter bei Kladrau. Josef, der Jüngste, besuchte das Gymnasium, in Schlaggenwald und die technische Hochschule in Prag. Nach seinem Studium bekam er eine Anstellung bei der K. K. österreichischen Staatsbahn-Direktion in Prag, wo er bis zu seiner Pensionierung wirkte. Der letzte Wirkungsort des Oberlehrers Johann Urzidil war Haid. Hier haben sie am Marktplatz ein Haus gekauft, wo sie ihren Lebensabend verbringen wollten, aber Oberlehrer Urzidil ist bald gestorben. Die Witwe Barbara verlebte hier einige Jahre zurückgezogen, bis sie die ältere Tochter nach Turnau geholt hat, wo sie mit 86 Jahren starb.

Johannes Urzidil, Schriftsteller, geb. am 3.2.1896 in Prag, gest. am 2.11.1970 in Rom. Er sollte auch Techniker werden, es gefiel ihm aber nicht: und er wurde ein „Schreiberling“, wie ihn sein Vater nannte. Als Vater Urzidil Pensionär wurde, wollte der Sohn, daß der Vater Urzidil nicht in Prag, sondern wenn schon nicht in seinem Geburtsort Schippin, so doch in der nahen Bezirksstadt Weseritz mit seiner zweiten Frau seinen Lebensabend verbringen sollte. Er kaufte ihnen in der Neudorfer Straße Nr. 118 in Weseritz ein Haus. Leider starb Ing. Urzidil schon im ersten Jahr seines Weseritzer Aufenthalts.

Ich erinnere mich noch, es dürfte in der Mitte der 20er Jahre gewesen sein, da gab es am Abend folgendes Gasthausgespräch: „Heute ist aus der Neudorfer Straße ein Eisenbahner begraben worden“. Die Weseritzer Eisenbahner gaben ihm das letzte Geleit. Während der Grabsenkung ließ drüben am Bahnhof eine Dampflok ihren Pfeifton 9 Minuten lang übers offene Grab und die Stadt ertönen.

Ing. Urzidil hat während seiner langen Dienstzeit drei Verbesserungen an der Dampflok entwickelt. Die Witwe Urzidil’s hat noch eine Zeitlang in Weseritz verbracht, verkaufte dann aber das Haus an die Eisenbahnerfamlie Wolfgang Werner und ging wieder zurück in ihre Heimat nach Prag.

Man sollte meinen, die Weseritzer Doktor-Bärbel ist 86 Jahre alt geworden, wurde in Turnau begraben und müßte nun endlich ihre verdiente Ruhe gefunden haben, aber dem ist nicht so. Ihr Enkel Johannes hat auch danach noch über sie geschrieben. Eine Geschichte heißt: „Die Rippe meiner Großmutter“. Um den Raum unseres Heimatbriefes nicht noch mehr zu beanspruchen, verweise ich unsere Leser auf die Bücher von Johannes Urzidil. Herausgeber: „Artemis Verlag Zürich und Stuttgart“.

Quelle:
Anton Wanka. Heimatbrief für die Bezirke Plan-Weseritz und Tepl-Petschau 12/1984, S. 697 f.

Die Rippe meiner Altgroßtante

Der Prager Schriftsteller Johannes Urzidil berichtet in seiner Erzählung „Die Rippe der Großmutter“ über den außergewöhnlichen Werdegang dieses Knochens der Barbara Urzidil. Barbara war die Tochter meines Altgroßvaters Wenzel Hainl, eines fürstlichen Wundarztes aus Weseritz, und somit meine Altgroßtante. Urzidil bringt in Erfahrung, dass seine Großmutter „es auch nebenher mit dem Müller Beuga von Müllowa getrieben“ habe und folgert daraus: „Wessen Sohn einer sein mag, weiß eben außer den unmittelbar Beteiligten oft nur Gott allein, aber er kümmert sich nicht sehr darum.“ Dies mag vielleicht die Blutsverwandtschaft in Zweifel ziehen, macht die Erzählung aber nicht weniger lesenswert.

Jahre nach dem Tod seiner Großmutter, die Johannes Urzidil gar nicht mehr kennen lernte, steht er mit seinem Vater an ihrem Grab, als der Totengräber Platz für Barbaras Tochter Therese schafft, indem er die Gebeine der Großmutter ans Tageslicht befördert. „Oh herzgeliebtes Bärbelchen, nimm mich auf dein Pölsterchen, o herzgeliebtes Bärbelchen, nimm mich mit ins Bett“, singt der Totengräber bei seiner Arbeit. Der kleine Johannes steht ungerührt dabei, als sein Vater ihn beim Anblick des lehmigen Schädels belehrt: „Siehst du, im Oberkiefer stecken noch sämtliche Zähne. Nimm dir ein Beispiel. Sie wurde sechsundachtzig.“ Der spätere Schriftsteller ist „auf Tod trainiert“. „Wer starb, waren die anderen.“ Insofern nimmt es auch nicht Wunder, dass sein Vater eine Rippe der Großmutter zum Andenken mitnimmt.

Zunächst geht Bärbels Rippe in der Volksschule von Hand zu Hand, was zu ernsthaften Auseinandersetzungen zwischen Johannes und seinen Mitschülern führt, welche in Zweifel ziehen, dass selbige echt sei, bis der Direktor schließlich das Mitbringen von Rippen untersagt. Als Johannes in die Pubertät kommt, wird ihm schließlich bewusst, dass sich über der Rippe einmal der Busen einer Frau, also etwas „Begehrenswertes und dabei Gefährliches“ befunden haben musste.

So begleitet das gute Stück den Jungen auch auf seinem weiteren Lebensweg. Bei der Einberufung zum Militärdienst während des Ersten Weltkrieges hängt er sich die Rippe an einer Kordel um den Hals, dort wo andere ein Kreuz oder Medaillon tragen. In der Armee wird er von einem sadistischen Stabsfeldwebel drangsaliert, dem er zu entkommen hofft, indem er einen Zusammenbruch simuliert. Als der Feldwebel die Rippe sieht, stellt er fest: „nicht ganz recht da oben“ und lässt ihn auf einer Tragbahre zu einem ratlosen Stabsarzt bringen, der ihn in das Garnisonspital in der Festung Theresienstadt überweist. Hier entwickelt sich eine schwejk’sche Geschichte über die Frage, auf welcher Seite die Normalen und auf welcher die Verrückten wohl zu finden seien. Dem Rekruten werden u.a. eine Amnesia militans und „Sexualkannibalismus“ attestiert; die Rippe wird in Verwahrung genommen.

Die Ärzte teilen Urzidil für den Wachdienst ein, da in den Kanzleien schon zu viele Verrückte tätig seien. Dort begegnet ihm – man ahnt es bereits – der sadistische und zudem alkoholabhängige Stabsfeldwebel, der eine Strafe für das Verprügeln eines Vorgesetzten verbüßt und später an der Ostfront fallen wird. An jenem Vormittag, als in Prag die Doppeladler heruntergerissen werden und der Untergang der Donaumonarchie in vollem Gange ist, gelingt es Johannes Urzidil, zu einem Major vorzudringen und die Rippe seiner Großmutter zurückzuverlangen. Tatsächlich erhält er die Schlüssel zum Archiv und findet dort die Rippe, die seinem medizinischen Befund mit einem Amtsbindfaden beigeheftet ist. Der anrückenden tschechischen Bürgergarde, die ihn für einen Vertreter des kaiserlich-königlichen Militärs hält, entkommt er dadurch, dass er erneut seine Geschichte zum Besten gibt. Niemand hält ihn jedoch für verrückt, ganz im Gegenteil. Moniert wird lediglich die schwarz-gelbe Kordel, die um die Rippe gebunden ist. Die Begegnung mündet in ein kollektives Besäufnis, die Republik ist gegründet.

Was wird aber nun aus der Rippe? Urzidil deutet an, sie sei „inmitten einer leidenschaftlichen und für das Leben entscheidenden Umarmung“ an seiner Brust zerborsten. Dem Leser bleibt es überlassen, sich die näheren Umstände auszumalen.

Quelle:
Johannes Urzidil. „Die Rippe der Großmutter“ in: Die Rippe der Großmutter – Erzählungen, Verlag Volk und Welt Berlin 1976: S. 259 – 295.

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