Wer von Hangendorf (Olešovice) kommend durch Neumarkt (Úterý) fährt, kann ein großformatiges Banner nicht übersehen: „Jsem na spadnutí“ ist darauf zu lesen: „Ich stürze ein“. Die Schriftzeile wird ergänzt durch den Aufruf, die Rettung des Gebäudes zu unterstützen. Es geht um das direkt am historischen Marktplatz gelegene Haus Nr. 69.
Im Juli 2018 druckte der Heimatbrief einen bereits 1951 erschienen Beitrag über die Neumarkterin Anna Turba. Deren Ehemann hatte zu Lebzeiten eben jenes Haus Nr. 69 – das sogenannte „Eckhaus“ – als Gasthaus bewirtschaftet. Wegen des Handwerks, das sich früher darin befand, trug es die Bezeichnung „Beim Seifensieder“. Nach der Vertreibung der deutschböhmischen Neumarkter nannten die tschechischen Neuankömmlinge das Haus „Turbovna“ oder „Na Růžku“; es blieb lange unbewohnt und verfiel. Die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft sowie ein Neumarkter Staatsgut verwendeten das Gebäude als Lagerraum. Später diente das Haus wechselnden Besitzern zu Erholungszwecken. Niemand vermochte die erforderliche Renovierung zu stemmen. Ein zerstörtes Dach, Wasserschäden, die Statik gefährdet – in den letzten Jahren war das Eckhaus mit seiner stolzen Geschichte nur noch eine Ruine, die zwischenzeitlich sogar aus Sicherheitsgründen gesperrt werden musste. Und das mitten in einer ausgewiesenen Denkmalzone.
Im Jahre 2015 kaufte der Neumarkter Bürgerverein Bart (Úterský spolek Bart) das für den Marktplatz so charakteristische Gebäude mit dem Ziel, die Instandsetzung nun endlich voranzutreiben. Seine engagierten Mitglieder wollten aber von Anfang an nicht nur ein Bauwerk erhalten, sondern einen Ort der Begegnung schaffen: ein Gemeindehaus mit Café, Infocenter und einer historischen Ausstellung in einem kleinen Museum. Letzteres soll dem Werdegang des Hauses und der wechselvollen deutsch-tschechischen Geschichte Neumarkts bzw. Úterýs Rechnung tragen.
Zuerst galt es aber, das Gebäude wieder herzurichten. Durch ehrenamtliche Arbeit zahlreicher Freiwilliger sowie mithilfe von Spenden und eines Zuschusses der Pilsener Region gelang es in den ersten beiden Jahren, einen vom Einsturz bedrohten Torbogen zu reparieren und das Dach abzudichten. Das bereits erwähnte Banner diente dem Fundraising ebenso wie eine originelle und erfolgreiche Spendenaktion im Internet, die darin bestand, Spendern als Gegenleistung eine Kellerführung, ein T-Shirt mit dem Slogan „Ich stürze ein“ oder ein Buch über den gegenüber dem Eckhaus geborenen Kaspar Karl Reitenberger anzubieten. Auch Einnahmen aus kulturellen Veranstaltungen dienten der Finanzierung. Inzwischen konnten die ersten Sicherungsarbeiten in den umfangreichen Kellergewölben erfolgreich abgeschlossen werden. Es geht also voran. Die ersten Etappen auf dem Weg zu einem lebendigen Gemeindehaus sind geschafft. Aber auch für die weitere Arbeit ist Bart (Úterský spolek Bart) jede Unterstützung willkommen. Die Bankverbindung des Vereins für das Spendenkonto lautet: IBAN CZ03 0300 0000 0002 7050 7717, BIC (SWIFT) CEKOCZPP.
Der heutige Verein Bart wurde im Jahre 2000 als Bürgerinitiative gegründet. Anlass war die Renovierung der historischen Orgel in der Neumarkter Kirche St. Johannes der Täufer. Mithilfe von Spenden, eines Zuschusses des norwegischen Kulturfonds und tatkräftiger Unterstützung aus der Umgebung konnte die im Jahre 1720 von Johann Leopold Burckhardt gebaute Orgel rekonstruiert werden. Seit dem Jahre 2012 findet in jedem Sommer ein Orgelmeisterkurs statt: Eine Woche lang widmen sich Studenten internationaler Musikhochschulen unter Anleitung eines erfahrenen Dozenten der Interpretation barocker Orgelwerke. Den Beginn und den Abschluss markieren jeweils öffentliche Konzerte, die für Neumarkt ein seltenes, kulturelles Juwel darstellen. Als ich vor zwei Jahren eines dieser Konzerte besuchte, war ich doch sehr erstaunt, zwei Musikstudenten kennenzulernen, die an der Berliner Universität der Künste eingeschrieben waren – wenige Gehminuten von meiner Charlottenburger Wohnung entfernt. In diesem Jahr findet der Meisterkurs vom 19. bis zum 24. August unter Leitung von Professor Tobias Lindner (Schola Cantorum Basiliensis) statt; das traditionelle Abschlusskonzert mit den Teilnehmern ist für den 24. August anberaumt. Das Programm kann im Internet (http://mvk.utery.eu/) abgerufen werden.
Bart organisiert in diesem Jahr darüber hinaus noch weitere Veranstaltungen in Neumarkt/Úterý:
4. Mai 2019: Neumarkter Wanderungen (12, 24 oder 30 km)
11. Mai. 2019: Oldtimer Wettbewerb
13. Juli 2019: Jahrmarkt
14. September 2019: B-ART – Familienfest mit Handarbeit und Kunst
Dass der heutige Bürgerverein Bart sich mit der Geschichte Neumarkts auskennt und das deutsche Kulturerbe der Grenzregion zu würdigen weiß, hat er als Bürgerinitiative auch im Jahre 2006 bewiesen. Mit Unterstützung der Gemeindebehörde und der Regionalbehörde legten die Mitglieder einen anderthalb Kilometer langen Lehrpfad an, auf dem man die bedeutendsten Gebäude des Städtchens ansteuern kann. Zehn Hinweistafeln informieren kenntnisreich in Wort und Bild über die frühere Nutzung der Häuser sowie über das tägliche Leben der Neumarkter vor der Vertreibung. Vom Marktplatz geht es unter anderem über das Pfarrhaus, die Kirche und die Brauerei bis hinauf zur Wenzelskapelle.
Aber zurück zu dem alten Haus am Markt. Úterý und das Eckhaus stehen bei Filmschaffenden seit Jahrzenten hoch im Kurs. Entdeckt wurde Neumarkt bereits im Jahre 1950 als Drehort für den Film „Zvony z rákosu“ („Glocken aus Schilf“). „Zdivočelá země“ („Verwildertes Land“), eine Langzeitserie des tschechischen Fernsehens, wurde seit 1997 über viele Jahre hier gedreht. Darin geht es um einem ehemaligen tschechischen Soldat, dessen Wunsch, sich im Grenzgebiet ein neues Leben aufzubauen, der Kommunismus nach dem Februarputsch 1948 zunehmend entgegensteht. Die einfühlsame Titelmusik einiger Staffeln singt übrigens die großartige Marta Kubišová. Viele Bewohner Úterýs haben als Statisten an der Serie mitgewirkt. Auch die in bundesdeutschen Lichtspielhäusern erfolgreich gelaufene deutsch-tschechisch-österreichische Koproduktion „Habermann“ („Habermannův mlýn“) mit Hannah Herzsprung und Ben Becker aus dem Jahre 2010 spielt teilweise in Neumarkt. Der jüngste dort gedrehte Film stammt aus dem vergangenen Jahr. In dem russischen, wenig subtilen Weltkriegsdrama von Aleksey Sidorov geht es um die Insassen eines deutschen Kriegsgefangenenlagers, die in einem halbzerstörten T-34 Panzer fliehen. So heißt auch das Werk: „T-34“. In all diesen Filmen erkennt man das alte Barockhaus; in „T-34“ sogar als Hintergrund für ein dramatisches Panzerduell. Es ist zum Filmstar geworden und Neumarkt zum tschechischen Hollywood.
Die Beliebtheit Úterýs als Drehort unterstreicht die Bedeutung des Denkmalschutzes. Schließlich kommen die Filmschaffenden gerade wegen der intakten Kulisse hierher, die sie sonst erst aufwendig erbauen müssten. Das Eckhaus ist Teil dieser Kulisse, Teil des historischen Erbes Böhmens. Dass der Bürgerverein Bart sich so vehement für seinen Erhalt engagiert, ist den Mitgliedern hoch anzurechnen. Deren Ziele liegen sicher auch den ehemaligen deutschen Bewohnern Neumarkts am Herzen.
Der Beitrag ist im Heimatbrief für die Bezirke Plan-Weseritz und Tepl-Petschau, Mai 2019, in verkürzter Form erschienen.