Meine ersten Fahrten in die Heimat meiner Großeltern unternahm ich in den neunziger Jahren. Obwohl ich damals natürlich längst in Farbe fotografiert habe, versprühen meine Aufnahmen den Charme verstaubter Schwarz-Weiß-Bilder. Ich hatte das Gefühl, tiefe Traurigkeit hätte sich in dieser doch so schönen Grenzlandschaft eingenistet. Die meisten Bewohner schienen sich nicht sonderlich für ihre Umgebung zu interessieren. Dass es auch damals schon andere Beispiele gab, war meiner Aufmerksamkeit entgangen. Inzwischen ist dies aber nicht mehr zu übersehen. Anders als in vielen Organisationen der Vertriebenen in Deutschland stellen sich in Böhmen vor allem junge Menschen der Teilnahmslosigkeit entgegen. Zahlreiche örtliche Initiativen engagieren sich inzwischen nicht zuletzt im Egerland für eine Region, die längst auch ihre Heimat ist. Ein Beispiel ist das Zentrum für kommunale Arbeit Westböhmen.
In den letzten Jahren hat das Zentrum für kommunale Arbeit Westböhmen drei umfangreiche Dokumentationen zum westböhmischen Grenzgebiet herausgegeben: „Lebendes Gedächtnis der Sudeten“ (2011), „Geschichten aus dem Sudetenland“ (2013) und „Wiederentdeckte Schätze im Sudetenland“ (2018). Die Bände entstanden in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule im Landkreis Cham e. V. Alle drei Publikationen bieten anschauliche Einblicke in die Geschichte und Gegenwart Westböhmens.
Das „Lebende Gedächtnis der Sudeten“ stellt Interviews mit Zeitzeugen in den Mittelpunkt. Die Gespräche wurden mit ursprünglichen deutschen Bewohnern Westböhmens, Zeitzeugen aus rein deutscher Umgebung sowie mit solchen aus gemischt tschechisch-deutschen Familien durchgeführt. Zudem enthält der Band Erlebnisberichte von Menschen, deren Umfeld rein tschechisch war. Der Leser begegnet untergegangen Orten, dem Bergbau im Grenzgebiet und der Neubesiedlung des Sudetenlands durch die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen. Die Zeitzeugen berichten über ihre grenzübergreifenden Kontakte, die den Kalten Krieg überdauerten, und über ihr Engagement für die Sanierung von Kulturdenkmalen. Der regionale Fokus des Bandes liegt im Umkreis von Tachau, Mies, Staab, Bischofteinitz sowie im Oberpfälzer Wald; sein Untertitel lautet: „Lebensgeschichten der Zeitzeugen aus Westböhmen“.
Gewissermaßen eine Fortsetzung im Sinne dieses Untertitels sind die „Geschichten aus dem Sudetenland“. Wiederum führten die Autoren Interviews mit Vertriebenen, Verbliebenen und Neusiedlern, unter anderem mit sogenannten Reimmigranten, deren Familien nach dem Zweiten Weltkrieg dem Ruf der damaligen tschechoslowakischen Regierung folgten, aus der Ukraine oder Polen nach Westböhmen zu kommen. Die Berichte dieser Zeitzeugen verdeutlichen, vor welche Herausforderungen die großen geschichtlichen Ereignisse sie alle stellten. An die Interviews schließt sich ein Kapitel an, das die gesammelten Geschichten in den historischen Kontext seit dem Zerfall der Donaumonarchie einbindet. Die Autoren verstehen die Publikation als Beitrag zur Wiederentdeckung der Häuser, Gemeinden und Landschaften, die über viele Generationen von Böhmen beiderlei Zunge errichtet wurden. Ihre Hoffnung ist es, das Interesse der Menschen an Geschichte und Gegenwart der Region zu steigern und ein neues Band zwischen ihnen und dem Ort, an dem sie leben, zu knüpfen.
Eine ganz andere Perspektive nimmt der jüngste Band „Wiederentdeckte Schätze im Sudetenland“ ein. Hier geht es nicht primär um individuelle Erinnerungen, sondern vielmehr um einzelne Kulturdenkmale und Traditionen Westböhmens. Die Projektpartner haben sechs solcher Sehenswürdigkeiten und Traditionen dokumentiert, die in den letzten Jahren wieder zu neuem Leben gelangt sind. Ihnen ist es gelungen, auf beiden Seiten der Grenze Menschen zu finden, die sich der Wiederbelebung des kulturellen Erbes widmen. Konkret geht es um die Wallfahrtskirche Maria Stock bei Luditz, die verschwundenen Orte Grafenried und Haselbach, die Bergsynagoge in Hartmanitz, die Wallfahrtskirche St. Anna bei Plan, die Passionsspiele in Höritz im Böhmerwald und um die Kirche zur Schmerzhaften Muttergottes in Hammern. Auch das Adalbert-Stifter-Museum in Oberplan und das Kloster der Prämostrantenserinnen in Chotieschau haben Eingang in die Dokumentation gefunden. Der Ort Neumarkt mit seiner renovierten Barockorgel und den historischen Häusern am Marktplatz, für deren Erhalt sich ein örtlicher Verein engagiert, wird ebenso vorgestellt, wie eine langjährige Initiative rund um das Pfarrhaus und die St.-Jakobs-Kirche in Böhmisch-Domaschlag. Diesen Fallbeispielen ist eine soziologische Studie vorangestellt. Sie beschreibt auch für Nicht-Soziologen sehr anschaulich, weshalb das Sudetenland geworden ist, wie es sich heute eben darstellt. Außerdem begründet sie, weshalb die Autoren das Kulturerbe als Entwicklungsfaktor im Grenzgebiet betrachten.
Alle
drei Bände sind sowohl in deutscher als auch in tschechischer
Sprache verfasst. Die zugehörigen Wanderausstellungen können von
Organisationen und Vereinen über die Projektpartner angefragt
werden. Auf der Internetseite https://schaetze.cpkp-zc.cz lassen sich
sowohl die Bücher als auch Ansichten der Ausstellungstafeln als
PDF-Dateien herunterladen.
Es bleibt zu hoffen, dass die Arbeit der vielen Vereine und Initiativen und das Engagement des Zentrums für kommunale Arbeit Westböhmen dazu beitragen, dass noch zahlreiche weitere Schätze geborgen werden.
Der Beitrag ist im Heimatbrief für die Bezirke Plan-Weseritz und Tepl-Petschau, Juni 2019, erschienen.
Wer von Hangendorf (Olešovice) kommend durch Neumarkt (Úterý) fährt, kann ein großformatiges Banner nicht übersehen: „Jsem na spadnutí“ ist darauf zu lesen: „Ich stürze ein“. Die Schriftzeile wird ergänzt durch den Aufruf, die Rettung des Gebäudes zu unterstützen. Es geht um das direkt am historischen Marktplatz gelegene Haus Nr. 69.
Im Juli 2018 druckte der Heimatbrief einen bereits 1951 erschienen Beitrag über die Neumarkterin Anna Turba. Deren Ehemann hatte zu Lebzeiten eben jenes Haus Nr. 69 – das sogenannte „Eckhaus“ – als Gasthaus bewirtschaftet. Wegen des Handwerks, das sich früher darin befand, trug es die Bezeichnung „Beim Seifensieder“. Nach der Vertreibung der deutschböhmischen Neumarkter nannten die tschechischen Neuankömmlinge das Haus „Turbovna“ oder „Na Růžku“; es blieb lange unbewohnt und verfiel. Die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft sowie ein Neumarkter Staatsgut verwendeten das Gebäude als Lagerraum. Später diente das Haus wechselnden Besitzern zu Erholungszwecken. Niemand vermochte die erforderliche Renovierung zu stemmen. Ein zerstörtes Dach, Wasserschäden, die Statik gefährdet – in den letzten Jahren war das Eckhaus mit seiner stolzen Geschichte nur noch eine Ruine, die zwischenzeitlich sogar aus Sicherheitsgründen gesperrt werden musste. Und das mitten in einer ausgewiesenen Denkmalzone.
Im Jahre 2015 kaufte der Neumarkter Bürgerverein Bart (Úterský spolek Bart) das für den Marktplatz so charakteristische Gebäude mit dem Ziel, die Instandsetzung nun endlich voranzutreiben. Seine engagierten Mitglieder wollten aber von Anfang an nicht nur ein Bauwerk erhalten, sondern einen Ort der Begegnung schaffen: ein Gemeindehaus mit Café, Infocenter und einer historischen Ausstellung in einem kleinen Museum. Letzteres soll dem Werdegang des Hauses und der wechselvollen deutsch-tschechischen Geschichte Neumarkts bzw. Úterýs Rechnung tragen.
Zuerst galt es aber, das Gebäude wieder herzurichten. Durch ehrenamtliche Arbeit zahlreicher Freiwilliger sowie mithilfe von Spenden und eines Zuschusses der Pilsener Region gelang es in den ersten beiden Jahren, einen vom Einsturz bedrohten Torbogen zu reparieren und das Dach abzudichten. Das bereits erwähnte Banner diente dem Fundraising ebenso wie eine originelle und erfolgreiche Spendenaktion im Internet, die darin bestand, Spendern als Gegenleistung eine Kellerführung, ein T-Shirt mit dem Slogan „Ich stürze ein“ oder ein Buch über den gegenüber dem Eckhaus geborenen Kaspar Karl Reitenberger anzubieten. Auch Einnahmen aus kulturellen Veranstaltungen dienten der Finanzierung. Inzwischen konnten die ersten Sicherungsarbeiten in den umfangreichen Kellergewölben erfolgreich abgeschlossen werden. Es geht also voran. Die ersten Etappen auf dem Weg zu einem lebendigen Gemeindehaus sind geschafft. Aber auch für die weitere Arbeit ist Bart (Úterský spolek Bart) jede Unterstützung willkommen. Die Bankverbindung des Vereins für das Spendenkonto lautet: IBAN CZ03 0300 0000 0002 7050 7717, BIC (SWIFT) CEKOCZPP.
Der heutige Verein Bart wurde im Jahre 2000 als Bürgerinitiative gegründet. Anlass war die Renovierung der historischen Orgel in der Neumarkter Kirche St. Johannes der Täufer. Mithilfe von Spenden, eines Zuschusses des norwegischen Kulturfonds und tatkräftiger Unterstützung aus der Umgebung konnte die im Jahre 1720 von Johann Leopold Burckhardt gebaute Orgel rekonstruiert werden. Seit dem Jahre 2012 findet in jedem Sommer ein Orgelmeisterkurs statt: Eine Woche lang widmen sich Studenten internationaler Musikhochschulen unter Anleitung eines erfahrenen Dozenten der Interpretation barocker Orgelwerke. Den Beginn und den Abschluss markieren jeweils öffentliche Konzerte, die für Neumarkt ein seltenes, kulturelles Juwel darstellen. Als ich vor zwei Jahren eines dieser Konzerte besuchte, war ich doch sehr erstaunt, zwei Musikstudenten kennenzulernen, die an der Berliner Universität der Künste eingeschrieben waren – wenige Gehminuten von meiner Charlottenburger Wohnung entfernt. In diesem Jahr findet der Meisterkurs vom 19. bis zum 24. August unter Leitung von Professor Tobias Lindner (Schola Cantorum Basiliensis) statt; das traditionelle Abschlusskonzert mit den Teilnehmern ist für den 24. August anberaumt. Das Programm kann im Internet (http://mvk.utery.eu/) abgerufen werden.
Bart organisiert in diesem Jahr darüber hinaus noch weitere Veranstaltungen in Neumarkt/Úterý:
4. Mai 2019: Neumarkter Wanderungen (12, 24 oder 30 km)
11. Mai. 2019: Oldtimer Wettbewerb
13. Juli 2019: Jahrmarkt
14. September 2019: B-ART – Familienfest mit Handarbeit und Kunst
Dass der heutige Bürgerverein Bart sich mit der Geschichte Neumarkts auskennt und das deutsche Kulturerbe der Grenzregion zu würdigen weiß, hat er als Bürgerinitiative auch im Jahre 2006 bewiesen. Mit Unterstützung der Gemeindebehörde und der Regionalbehörde legten die Mitglieder einen anderthalb Kilometer langen Lehrpfad an, auf dem man die bedeutendsten Gebäude des Städtchens ansteuern kann. Zehn Hinweistafeln informieren kenntnisreich in Wort und Bild über die frühere Nutzung der Häuser sowie über das tägliche Leben der Neumarkter vor der Vertreibung. Vom Marktplatz geht es unter anderem über das Pfarrhaus, die Kirche und die Brauerei bis hinauf zur Wenzelskapelle.
Aber zurück zu dem alten Haus am Markt. Úterý und das Eckhaus stehen bei Filmschaffenden seit Jahrzenten hoch im Kurs. Entdeckt wurde Neumarkt bereits im Jahre 1950 als Drehort für den Film „Zvony z rákosu“ („Glocken aus Schilf“). „Zdivočelá země“ („Verwildertes Land“), eine Langzeitserie des tschechischen Fernsehens, wurde seit 1997 über viele Jahre hier gedreht. Darin geht es um einem ehemaligen tschechischen Soldat, dessen Wunsch, sich im Grenzgebiet ein neues Leben aufzubauen, der Kommunismus nach dem Februarputsch 1948 zunehmend entgegensteht. Die einfühlsame Titelmusik einiger Staffeln singt übrigens die großartige Marta Kubišová. Viele Bewohner Úterýs haben als Statisten an der Serie mitgewirkt. Auch die in bundesdeutschen Lichtspielhäusern erfolgreich gelaufene deutsch-tschechisch-österreichische Koproduktion „Habermann“ („Habermannův mlýn“) mit Hannah Herzsprung und Ben Becker aus dem Jahre 2010 spielt teilweise in Neumarkt. Der jüngste dort gedrehte Film stammt aus dem vergangenen Jahr. In dem russischen, wenig subtilen Weltkriegsdrama von Aleksey Sidorov geht es um die Insassen eines deutschen Kriegsgefangenenlagers, die in einem halbzerstörten T-34 Panzer fliehen. So heißt auch das Werk: „T-34“. In all diesen Filmen erkennt man das alte Barockhaus; in „T-34“ sogar als Hintergrund für ein dramatisches Panzerduell. Es ist zum Filmstar geworden und Neumarkt zum tschechischen Hollywood.
Die Beliebtheit Úterýs als Drehort unterstreicht die Bedeutung des Denkmalschutzes. Schließlich kommen die Filmschaffenden gerade wegen der intakten Kulisse hierher, die sie sonst erst aufwendig erbauen müssten. Das Eckhaus ist Teil dieser Kulisse, Teil des historischen Erbes Böhmens. Dass der Bürgerverein Bart sich so vehement für seinen Erhalt engagiert, ist den Mitgliedern hoch anzurechnen. Deren Ziele liegen sicher auch den ehemaligen deutschen Bewohnern Neumarkts am Herzen.
Der Beitrag ist im Heimatbrief für die Bezirke Plan-Weseritz und Tepl-Petschau, Mai 2019, in verkürzter Form erschienen.
Mehr noch als vom Tod künden Grabsteine vom Leben der Verstorbenen – Geburtstag, Bilder, Berufe, Wohnorte. Auf dem Friedhof wird eben auch, wenn nicht sogar vor allem, an die Zeit vor der Beisetzung gedacht. Beth-Hachajim – Haus des Lebens heißt der Friedhof nicht umsonst im Hebräischen. Grabsteine erzählen die Geschichte der kleinen Leute und der löblichen Herrschaften, die Geschichte ihres Landes, ihrer Kultur und ihres Glaubens. Diese Erzählungen sind aber nur für kurze Zeit verfügbar. In der Bundesrepublik Deutschland ist das Nutzungsrecht an einer Grabstätte oft auf eine Mindestruhezeit von 15 bis 20 Jahren beschränkt. Auch das tschechische Friedhofsrecht sieht vor, dass Gräber, die nicht mehr gepflegt werden, unter bestimmten Voraussetzungen eingeebnet werden können. Dass Grabsteine aber auch ohne solche Eingriffe mit den Jahren immer weniger erzählen können, zeigen besonders die alten, nicht mehr genutzten Friedhöfe. Dort zerbrechen Grabplatten, versinken die Steine langsam im Boden, verblassen ihre Inschriften und holt sich die Natur in Windeseile zurück, was ihr genommen wurde. Vor dem Efeu sind alle Toten gleich.
Zugegeben, es ist keine romantische Vorstellung, aber um die Erzählungen über unsere verstorbenen Vorfahren zu bewahren, bietet sich das Internet geradezu an. Das Grabsteinprojekt des Vereins für Computergenealogie beispielsweise:
Auf dieser Seite listet der Verein Friedhöfe auf, deren Grabsteine jeweils mit Bildern und Daten erfasst sind. Jeder kann diese Datenbank kostenlos nutzen; sie lässt sich nach Orten und Nachnamen durchsuchen. Mit etwas Glück finden sich so ganz schnell auch Fotos von Grabsteinen der eigenen Vorfahren. Für Ahnenforscher, die den Aufwand und die Kosten einer Reise oder eines Archivbesuchs scheuen, steht dadurch eine wunderbare Nebenquelle zur Verfügung. Zudem wird das Andenken an die Verstorbenen auch nach dem Abräumen der Gräber erleichtert und Kulturgut, wenn auch nur als Fotografie, für die nachfolgenden Generationen bewahrt.
Das öffentliche, nicht kommerzielle Grabstein-Projekt wurde 2007 von einer kleinen Gruppe Ahnen- und Familienforscher ins Leben gerufen; es lebt von ehrenamtlicher Mitarbeit. Die Datenbank ist inzwischen auf eine beachtliche Größe angewachsen. Auch wenn der Schwerpunkt in der Bundesrepublik Deutschland liegt, sind darüber hinaus fast einhundert Friedhöfe in der Tschechischen Republik erfasst – vorwiegend historische Friedhöfe ehemals deutsch besiedelter Ortschaften. Aus Weseritz und Umgebung waren bislang keine Aufnahmen zu finden. Das wollte ich ändern.
Im Frühjahr 2018 verbrachte ich eine Woche in den Orten meiner böhmischen Vorfahren. Mitgenommen habe ich natürlich meine Kamera und zusätzlich noch Arbeitshandschuhe und eine Heckenschere, um zugewachsene Steine vom Efeu zu befreien sowie eine Wurzelbürste und einen robusten Lappen zum Freilegen verwitterter Inschriften. Für jeden Tag nahm ich mir einen Gottesacker vor: den Stadtfriedhof von Weseritz (Bezdružice) sowie den in der Nähe von Rössin (Řešín) befindlichen jüdischen Friedhof, außerdem die Friedhöfe in Tschelief (Čeliv), Witschin (Vidžín), Neumarkt (Úterý) und Böhmisch-Domaschlag (Domaslav). Die Bilder jener Grabsteine, die noch eine lesbare Inschrift aufweisen, sind inzwischen auf den Seiten des Grabstein-Projekts und zusätzlich in voller Auflösung auch auf meiner Homepage (https://sven-mueller.info/) zu finden.
Die fotografische Erfassung und die dafür teilweise erforderlichen Arbeiten – die Säuberung von Inschriften oder das Zurückschneiden der Vegetation – waren einerseits doch ein wenig aufwendiger, als ich dachte. Andererseits habe ich dadurch die Friedhöfe, die ich von früheren Besuchen bereits kannte, auf eine ganz andere, viel intensivere Weise erlebt. Und mir fiel auf, wie sehr sie sich voneinander unterscheiden.
Richtig alt ist der Weseritzer Stadtfriedhof eigentlich nicht. Er liegt am ehemaligen Langen Weg (K Lesu) am Ortsrand und wird von der Stadt Bezdružice heute noch genutzt. Der erste, um die Kirche gelegene Gottesacker war bereits 1828 aufgelassen und der spätere Friedhof 1931 mit dem Bau des Kriegerdenkmals aufgegeben worden. Viele Grabsteine mit deutscher Inschrift finden sich nicht mehr auf dem „neuen“ Friedhof, gerade einmal sieben fotografiere ich. Einige der älteren Grabsteine tragen tschechischsprachige Gedenkplatten, der Rest ist ohnehin jüngeren Datums. Dass die übrigen alten Steine nicht aus Platzgründen weichen mussten, wird deutlich, wenn man den hinteren, überwachsenen Bereich des Friedhofs besucht. An zwei Stellen türmen sich zerstörte Grabsteine, die offenbar nach der Vertreibung der deutschböhmischen Weseritzer an der Friedhofsmauer aufgehäuft wurden. Am zentralen Friedhofskreuz wurde im Jahre 2002 anlässlich des Florianifests eine aus Spenden finanzierte Gedächtnistafel angebracht: „Zum Gedenken an die ehemaligen deutschen Bewohner der Pfarrei Weseritz, die auf diesem Friedhof bis zum Jahre 1946 ihre ewige Ruhe fanden. Errichtet im Jahre 2002 von den in aller Welt verstreuten Nachkommen.“ Beeindruckend ist die gut erhaltene Skulptur einer weinenden Frau, die unweit des Kreuzes steht. Sie ziert das Grab der Antonia Fritsch, die hier im Jahre 1914 zur Ruhe gelegt wurde. Mein Urgroßvater, Josef Holdschick, war der Letzte aus meiner Familie, der hier beigesetzt wurde. Er starb im Alter von 87 Jahren, drei Wochen bevor seine Nachkommen in den Güterzug gen Westen gezwungen wurden. Sein Grab existiert nicht mehr.
Die letzte Bestattung auf dem jüdischen Friedhof in Weseritz fand im Jahre 1935 statt. Das jüdische Leben in der Stadt endete mit der Annexion des Sudetenlandes durch das Deutsche Reich. Viele Juden flüchteten vor den Nationalsozialisten in den noch freien Teil der Tschechoslowakei. Wer sich nicht rechtzeitig in Sicherheit brachte, wurde bald aber auch dort gnadenlos verfolgt, in Vernichtungslager deportiert und ermordet. Das traurige Ende, aber auch die Anfänge und die guten Jahre der jüdischen Gemeinde haben Ingild Janda-Busl und Franz Busl in dem Jahre 2006 erschienen Buch „Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Weseritz/Bezdružice“ sehr detailliert dokumentiert. Es heißt darin, dass ein Rössiner während der Zeit, in der die Schändung jüdischer Friedhöfe an der Tagesordnung war, Grabsteine des Weseritzer Judenfriedhofs für den Mauerbau geholt und sich dann aus Gewissensbissen erhängt haben soll. Lange lag der Friedhof – oder was davon übrig geblieben war – schwer zugänglich in einem Wald bei Rössin verborgen. Nur oben vom Schlossberg aus ließ sich die Lage des Friedhofs gut erkennen – an den im Vergleich zur Umgebung unterschiedlichen Baumarten. Die Umfriedung war bereits eingefallen und viele Grabsteine umgeworfen oder zerstört, als die Aktion Sühnezeichen-Friedensdienste dem Friedhof ein Stück seiner Würde zurückgab. Nachdem die Stadtverwaltung die aufgrund eines schweren Sturms eingestürzten Bäume abgeräumt hatte, machten sich in den Jahren 2010 und 2011 die Teilnehmer des internationalen Freiwilligendienstes in vier Ü40-Sommerlager daran, die restlichen Pappeln zu fällen, Grabsteine aus vielen Einzelteilen zusammenzusetzen, wieder aufzurichten und zu reinigen. Auch die Fundamente der Leichenhalle haben sie gut sichtbar freigelegt. Dutzende der für den Mauerbau verwendeten Steine und Fragmente waren wenige Jahre zuvor aus Rössin zurückgebracht worden und lehnen nun an der Friedhofsmauer. Haus des Lebens.
Die Kapelle direkt gegenüber dem Neumarkter Gemeindefriedhof ist dem Heiligen Wenzel geweiht. Über ihrem Portal befinden sich das Wappen und die Initialen des Abtes von Tepl. Zumindest von außen wirkt sie ordentlich. An einer gut sichtbaren, zentralen Stelle haben ehemalige Neumarkter im Jahre 1994, einhundert Jahre nach Errichtung des Friedhofs, eine zweisprachige Gedenktafel eingeweiht: „1894 – 1994 Wir gedenken unserer Toten. Herr bei Dir ist Heimat. Gerichtet von den in Deutschland lebenden Nachkommen.“ Sie ziert den Sockel des restaurierten, großen Friedhofskreuzes. Sieben Jahre später wurde an der hinteren Friedhofsmauer, dort, wo heute die meisten alten Grabsteine zu finden sind, eine deutschsprachige Gedenktafel errichtet: „Zum Gedenken an die verstorbenen ehemaligen Bewohner des Kirchsprengels Neumarkt“. Manche Grabsteine sind erstaunlich gut erhalten und wirken gepflegt, andere lehnen vergessen und verlassen an der Friedhofsmauer. Als ich Anfang Mai meine Fotos schieße, kriecht aus dem Wald ein kühles Lüftchen herauf, die Abendsonne zaubert aber bereits eine Vorahnung des langen Sommers auf die warme, von dichtem Moos bewachsene Mauer. Ich finde noch ein verwittertes Holdschick-Grab, weiß aber nicht, ob und in welcher Weise die dort Beigesetzten mit dem Weseritzer Zweig der Familie verwandt waren.
Das Dörfchen Witschin gehört heute zur Stadt Neumarkt. Unten am Neumarkter Bach standen die Holdschick-Häuseln und die Holdschicken-Mühle. Mein Urahn, Urban Holdschick, soll dort am 9. Februar 1654 gestorben sein. Die Mühle, deren noch sichtbaren Mauerreste im Sommer von Brennnesseln überwachsen sind, war möglicherweise der Ursprung der Holdschicks im Weseritzer Ländchen. Grund genug, den Friedhof zu besuchen, obwohl mir natürlich klar ist, dass derart alte Gräber dort nicht mehr zu finden sein werden. Das eiserne Friedhofstor steht offen, auf der anderen Straßenseite bereiten die Betreiber einer Biker-Kneipe den Garten für den Sommer vor. Noch aber sind keine Motorräder zu sehen und auch nicht zu hören. Es ist still auf dem Friedhof, der seit der Vertreibung nicht mehr belegt wird. Bei meinem ersten Besuch vor fünfzehn Jahren wucherten noch Rainfarn, Himbeerbüsche und Weideröschen. Die dichte Vegetation machte damals ein Durchkommen fast unmöglich. Verwahrlost war kein Ausdruck, aber Verfall und Nostalgie liegen manchmal nahe beieinander. Inzwischen ist der Friedhof gerodet und wieder gut begehbar. Seine Patina hat er sich freilich bewahrt. Narzissen blühen zwischen den notdürftig wieder aufgestellten Grabsteinen. Die meisten Grabplatten sind zerborsten und die Schrift auf den noch intakten Steinen ist oft nicht mehr lesbar. Befremdlich wirkt die kleine Mittelallee aus viel zu eng gepflanzten und inzwischen übergroßen Thujen, an deren Ende das Friedhofskreuz steht. Moos kriecht in die Ritzen der umgefallenen Steine. Auch hier finde ich noch eine Erinnerung an verstorbene Holdschicks.
Wer mit dem Auto unterwegs ist, muss aufpassen, am Kokaschitzer Friedhof in Tschelief nicht vorbeizufahren. Er liegt unmittelbar am Weg nach Kokaschitz (Kokašice), ist sehr aufgeräumt und beherbergt nur noch wenige alte Grabsteine mit deutscher Inschrift. Auch hier ist das zentrale Friedhofskreuz noch erhalten. An der Mauer zur Straße hin befindet sich ein Gedenkstein mit Kruzifix, der an eine Grabschändung auf dem nahe gelegenen Schwanberg erinnert. Die Übersetzung der Inschrift lautet in etwa: „Hier liegen die Überreste derer von Schwanberg, die 1964 aus den verwüsteten Gräbern auf der Burg Schwanberg überführt wurden. Sie mögen ruhen in Frieden.“
Recht gut erhalten ist der Friedhof in Böhmisch-Domaschlag. Zwar liegen die Erhaltungs- und Pflegearbeiten, die der Verein o. s. Domaslav in Kooperation mit einem Sommerlager der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e. V. initiiert hat, bereits fast zehn Jahre zurück. Doch hat sich in der Zwischenzeit auch die Gemeinde um den Friedhof gekümmert und beispielsweise das verfallene Leichenhaus wieder aufgebaut. Die Fotos von den Aufräumarbeiten auf der Homepage des Vereins o. s. Domaslav – der sich seit 2006 engagiert um die Renovierung der Jakobskirche und des Pfarrhauses bemüht – lassen erahnen, welch dichtes Gestrüpp sich zuvor zwischen den Grabsteinen ausgebreitet hatte. Auf dem zentralen Gefallenendenkmal ist die Inschrift nachgezeichnet worden und erinnert im hundertsten Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs an die Gefallenen aus Böhmisch Domaschlag, Millikau (Milkov), Saduba (Zádub) und Lohm (Lomy). Interessant ist, dass die Soldaten alle an der Ostfront, auf dem Balkan, in Italien oder in Ungarn starben – in Regionen also, die im aktuellen Weltkriegsgedenken zumindest in der Bundesrepublik Deutschland kaum wahrgenommen werden.
Der Aufenthalt auf den Friedhöfen hat mich den Orten und der Region noch einmal näher gebracht. Im nächsten Jahr möchte ich weitere Friedhöfe im Weseritzer Ländchen oder in der Umgebung besuchen und dort wieder für das Grabsteinprojekt fotografieren. Schön wäre es, wenn mein Artikel einige Leserinnen und Leser motivieren könnte, in den eigenen Herkunftsorten das Gleiche zu tun. Im Internetangebot des Grabstein-Projekts steht eine ausführliche Anleitung bereit, was beim Fotografieren zu beachten ist und in welcher Weise die Bilder auf die Plattform gelangen. Wer möchte, kann mich gerne anschreiben, ich freue mich über Rückmeldungen.
Der Beitrag ist im Heimatbrief für die Bezirke Plan-Weseritz und Tepl-Petschau, Februar 2019, erschienen.
Am 1. Mai 2018 lud der Verein der Freunde Kryštof Harants von Weseritz und Polschitz zur Eröffnung des Dorfmuseums in Harlosee, dem heutigen Horní Polžice. Mit einer kurzweiligen Ansprache eröffnete die Vorsitzende des Vereins, Šárka Sušírová, das Museum. Weseritz, zu dem das Örtchen Harlosee inzwischen gehört, ist seitdem um eine Sehenswürdigkeit reicher.
Um die Exponate unterzubringen, hat der Verein das ehemalige Feuerwehrhäuschen hergerichtet. Es bietet den Besuchern Fotografien aus vergangenen Zeiten, aber auch Alltagsgegenstände, die bisher auf Dachböden oder in Scheunen ihr unbeachtetes Dasein fristeten. So hängt beispielsweise gleich neben dem Foto aus dem früheren Backhaus der dort abgebildete Brotschieber. Andere Fotografien zeigen ehemalige deutsche Bewohner vor ihren Häusern – Bilder mit Ansichten aus aktuellen Tagen schlagen die Brücke in die Gegenwart. Ein paar alte Skier sind zu sehen, landwirtschaftliche Geräte, Geschirr, eine Truhe, ein Rundfunkempfänger aus der Nachkriegszeit und, und, und.
Natürlich wollten die vielen Gäste das Museum zur Eröffnung auch gleich besichtigen. Allerdings: viel Platz gibt es in dem kleinen Häuschen nicht. Es wurde zeitweise recht eng. Sorgenkind sind das Dach und der nächste Winter. Das Gebäude, das lange offen stand, hat der Verein schließlich im Originalzustand belassen, also nicht renoviert. Es ist zu hoffen, dass die Feuchtigkeit den Exponaten nicht zusetzt.
Der größte Teil der Fotos und Informationen in dem Dorfmuseum stammt von Gustav Černý, den Ingrid Fröhlich in ihrem Bericht vom diesjährigen Floriani-Fest (Juli-Ausgabe des Heimatbriefs) völlig zu recht als rührig beschrieben hat. Tatsächlich ist es sein großes Verdienst, zwischen Tschechen und Deutschen, zwischen ehemaligen und heutigen Einwohnern eine Brücke zu schlagen. Wer ihn kennen lernt, spürt das sofort. Jiří Bízek aus Weseritz hat die Fotoausstellung vorbereitet und die Übersetzungen einiger Texte aus der Chronik stammen von Václav Kalista, der leider wenige Wochen vor der Eröffnung des Museums verstorben ist. Das Projekt wurde unterstützt von der Weseritzer Stadtverwaltung und einem privaten Wasserversorger der Region. Der Tschechische Rundfunk und die Lokalzeitung (Tachovský deník) haben über das Ereignis berichtet.
Während der Veranstaltung lud der Verein zu Häppchen und Getränken; anschließend kam, wer wollte, mit auf eine geführte Wanderung nach Schwanberg, um dort regionale Köstlichkeiten auf dem inzwischen von einem engagierten Familienunternehmen geführten Dvůr Krasíkov zu probieren. Bevor die Wandergruppe aufbrach, stellten sich die zahlreich anwesenden Einwohner von Harlosee vor dem Museum zum Gruppenfoto auf. Die erste Aufnahme dieser Art seit 1936, hieß es scherzhaft, obwohl das wahrscheinlich sogar zutrifft.
Harlosee bildete früher zusammen mit Pollschitz eine Gemeinde. Es war der einzige der heute zur Stadt Weseritz (Bezdružice) gehörende Ort, für den es ausschließlich eine deutsche, aber keine tschechische Bezeichnung gab. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vertreibung der deutschsprachigen Einwohner wurde aus Pollschitz (Polžice) Dolní Polžice und aus Harlosee Horní Polžice. Lebten 1930 noch 112 Personen in Harlosee, wurden vor fünf Jahren in Horní Polžice nur noch 27 Seelen gezählt.
Bemerkenswert ist, dass der Verein dem Dorfmuseum auch in der tschechischen Sprache den deutschen Ortsnamen gegeben hat: Vesnické muzeum HARLOSEE. Das zeigt, das es inzwischen möglich ist, die Kultur der Region zu bewahren und ihr gleichzeitig in der Gegenwart einen angemessenen Platz zu sichern. Dem Verein gebührt große Anerkennung für seine Arbeit.
Für Wanderer, die auf den bestens ausgeschilderten Wegen im Weseritzer Ländchen unterwegs sind, bestimmt auch für die immer häufiger anzutreffenden Radfahrer, ist das Museum ein schöner Anlaufpunkt. Es ist während der Saison geöffnet; der Eintritt ist kostenfrei. Informationen über die Freunde von Kryštof Harant gibt es auf Facebook (Spolek přátel Kryštofa Haranta z Polžic a Bezdružic auf Facebook).
Der Beitrag ist im Heimatbrief für die Bezirke Plan-Weseritz und Tepl-Petschau, September 2018, erschienen.